Das Christentum ist eine Erfahrungsreligion

Religionswissenschaftler ordnen das Christentum, zusammen mit Islam und Judentum, den Buch- oder Offenbarungsreligionen zu. Damit meinen sie: diese Religionen stützen sich auf Offenbarungen, die angeblich von Gott stammen und in heiligen Büchern von Propheten oder Religionsgründern niedergeschrieben sind. An diese Offenbarungen muss man „glauben“, damit man zum Heil kommt oder dazugehört. Ich halte das für eine Verkennung der Tatsachen. Christentum ist eine Erfahrungsreligion (wie im Übrigen vermutlich auch die anderen beiden Religionen, zumindest im Kern und im Ursprung; aber da ich sie zu wenig kenne, will ich mich dazu nicht äußern). Sie beruht auf – inneren und äußeren – Erfahrungen der Gründer des Christentums und all jener, die zu seiner Verbreitung und Veränderung, seiner Gestaltung und Auswirkung beigetragen haben.

Karl Rahner hat dies klar gesehen und prophezeit, dass der Christ der Zukunft ein Mystiker sein werde oder gar nicht mehr existieren würde. Dies zeigt uns die Brücke: Mystiker sind Menschen, die über ihre innere Erfahrung Zugang zu einer Wirklichkeit erlangen, die vor unser aller Augen liegt, die aber den meisten nicht auffällt, weil sie zu sehr mit sich selber oder mit irgendwelchen Ideen beschäftigt sind. Diese Erfahrung interpretieren sie dann – notgedrungen, denn wir können nicht umhin, unsere Erfahrungen zu interpretieren – und zwar meistens im Rahmen der Bilder und Motive, die sie aus ihrer Kultur, Erziehung und Zeit her kennen. Wenn Rahner meint, der Christ der Zukunft – also alle Christen – müssten Mystiker werden, so meint er damit: Christen müssen, wenn sie in einer zukünftigen Welt Bestand haben wollen, ihre Religion von innen her, also durch eigene Erfahrung nachvollziehen. Oder anders ausgedrückt: Sie müssen sich selber um innere Erfahrung bemühen oder sich ihr öffnen, damit sie ihre Religion besser verstehen und sie von innen heraus beleben können.

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Wie ein Shitstorm entsteht – Sylvain Gouguenheim, Aristoteles, Tabus und die Blogosphäre

Über die Weihnachtstage habe ich einem meiner wissenschaftlichen Hobbys gefrönt und ein Buch gelesen, das schon ein halbes Jahr auf meinem Schreibtisch lag: das spannende Buch von Sylvain Gouguenheim, einem französischen Mittelalterforscher aus Lyon „Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel“ [1]. Ich habe mich ja durch die Arbeit an „meinem“ mittelalterlichen Mystiker Hugo de Balma ziemlich intensiv mit der Scholastik und damit auch mit der Überlieferung des Aristoteles im Mittelalter beschäftigt [2-5] und daher hat es mich naturgemäß sehr interessiert zu hören, was es hier an neuen Erkenntnissen gibt.

Gouguenheim zeigt, dass es das ganze Mittelalter hindurch Übersetzungen von Aristoteles gegeben hat

Die Standardmeinung ist ja, kurzgefaßt: Aristoteles war dem lateinischen Mittelalter bis auf wenige Textausschnitte unbekannt und kam erst langsam durch Übersetzungen, zunächst aus dem Arabischen, vermittelt durch Übersetzerschulen in Toledo aber auch in Sizilien und Neapel, wieder ins Bewusstsein der Gebildeten. Hier kommt nun ein Buch, das relativ schlüssig belegt, dass diese Sicht der Dinge falsch ist, zumindest in dieser Ausschließlichkeit. Gouguenheim zeigt, dass es das ganze Mittelalter hindurch Übersetzungen von Aristoteles gegeben hat, dass schon im 12. Jahrhundert, also fast zwei Generationen bevor die Übersetzungen aus dem Arabischen eintreffen, andere Übersetzungen vorliegen und damit der gesamte Aristoteles bekannt war.

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