“Sowohl als auch” statt “entweder-oder” – oder: wie man Kategorienfehler vermeidet

„Was ist tiefer: Teller oder Tasse?“, fragte neulich wer. Nach einigem Nachdenken sagte ich: „Naja, kommt drauf an, wie tief der Teller oder die Tasse wirklich sind, nicht wahr?“ „Falsch“, sagte der Schlaumeier. „Die Oder“. Klar. Egal wie tief eine Tasse oder ein Teller sind, die Oder, also der Fluss, an dem Frankfurt (Oder) liegt, wo ich arbeite, ist immer noch tiefer.

Der Witz – der natürlich gesprochen besser funktioniert als geschrieben – macht sich eine implizite Denkgewohnheit zu Nutze. Wir denken sehr häufig in den ausschließlichen Kategorien „entweder–oder“. Dabei übersehen wir das mögliche Dritte, Vierte, oder Fünfte. Darauf will ich ein bisschen Aufmerksamkeit und Zeit verwenden, weil mich das schon lange umtreibt.

Weiterlesen

Wie ein Shitstorm entsteht – Sylvain Gouguenheim, Aristoteles, Tabus und die Blogosphäre

Über die Weihnachtstage habe ich einem meiner wissenschaftlichen Hobbys gefrönt und ein Buch gelesen, das schon ein halbes Jahr auf meinem Schreibtisch lag: das spannende Buch von Sylvain Gouguenheim, einem französischen Mittelalterforscher aus Lyon „Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel“ [1]. Ich habe mich ja durch die Arbeit an „meinem“ mittelalterlichen Mystiker Hugo de Balma ziemlich intensiv mit der Scholastik und damit auch mit der Überlieferung des Aristoteles im Mittelalter beschäftigt [2-5] und daher hat es mich naturgemäß sehr interessiert zu hören, was es hier an neuen Erkenntnissen gibt.

Gouguenheim zeigt, dass es das ganze Mittelalter hindurch Übersetzungen von Aristoteles gegeben hat

Die Standardmeinung ist ja, kurzgefaßt: Aristoteles war dem lateinischen Mittelalter bis auf wenige Textausschnitte unbekannt und kam erst langsam durch Übersetzungen, zunächst aus dem Arabischen, vermittelt durch Übersetzerschulen in Toledo aber auch in Sizilien und Neapel, wieder ins Bewusstsein der Gebildeten. Hier kommt nun ein Buch, das relativ schlüssig belegt, dass diese Sicht der Dinge falsch ist, zumindest in dieser Ausschließlichkeit. Gouguenheim zeigt, dass es das ganze Mittelalter hindurch Übersetzungen von Aristoteles gegeben hat, dass schon im 12. Jahrhundert, also fast zwei Generationen bevor die Übersetzungen aus dem Arabischen eintreffen, andere Übersetzungen vorliegen und damit der gesamte Aristoteles bekannt war.

Weiterlesen