Kann ein Atheist beten und spirituell sein?

Der große Buddha in Kamakura, dem
Niklaus Brantschen ein Kapitel widmet.

Kann ein Atheist beten und spirituell sein? Ja, kann er (oder sie), meint Niklaus Brantschen und spricht darüber, wie es geht.

Niklaus Brantschen: Gottlos beten. Eine spirituelle Wegsuche. Ostfildern: Patmos Verlag, 128 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3-8436-1335-4, 19,- € (Das Buch beim Verlag)

Ich bin schon lange der Meinung, dass wir Spiritualität säkular diskutieren müssen in unserer Zeit, auch wenn die Wurzel von Spiritualität ursprünglich in den Religionen liegt. In unserer Kultur in der christlichen Religion. Ich habe das vor Zeiten in meinem Buch „Spiritualität – Warum wir die Aufklärung weiterführen müssen“ [1] diskutiert und im August in meinem neuen Buch „Brücken zwischen Psychotherapie und Spiritualität“ [2].

Demnächst komm ein kurzes Interview von mir zum Thema „Zen und Wissenschaft“ auf dem Selbstheilungskongress (https://www.selbstheilungs-kongress.de/). Der Kongress beginnt am 26.11. und das Interview ist am 28.11. einen Tag lang kostenlos zu sehen.

Was ich da zum Besten gebe, habe ich zu einem großen Teil meiner Meditationspraxis unter der Leitung von Niklaus Brantschen zu verdanken. Niklaus Brantschen ist Zenmeister und Jesuit. Sein eigener Lehrer war Yamada Koun Roshi, der dritte Dharma-Nachfolger der Sanbo Kyodan Linie des Zen. Das ist eine Art Reformlinie, die daraus entstand, dass ein Mönch, der mit der laxen Praxis der Koanschulung unzufrieden war, weil man die Lösungen der Koans von älteren Mönchen käuflich erwerben konnte, daher kurzerhand alle Lösungen öffentlich machte. Daraufhin warf man ihn aus dem Kloster und er gründete einfach seine eigene Schule, die nun Elemente der Rinzai und Soto-Tradition verbindet. Niklaus Brantschen ist in dieser Linie von Yamada ausgebildet worden und wurde noch kurz vor dessen Tod von Yamada ermächtigt, selber Schüler auszubilden. Später wurde er von anderen Lehrern in deren Linie aufgenommen und erhielt die Ermächtigung, selbständig eine Schule zu gründen und Lehrer zu ernennen. Also sozusagen ein „Zen Bischof“, wenn es sowas gäbe.

Niklaus Brantschen hat schon viele Bücher geschrieben, aber das hier ist ein besonderes Juwel, weswegen ich hier auch kurz darauf hinweisen will. Wer noch ein Weihnachtsgeschenk für den skeptischen Partner oder die auf vermeintliche Abwege geratenen Kinder sucht: hier ist es. Denn in diesem Buch spricht der Autor über die Frage, wie Spiritualität, also der Akt, in dem man sich nach innen wendet, z.B. in einer Form der Sammlung, und die daraus entstehende Weltsicht, die im christlichen Kontext Glaube genannt wird, zusammenhängen. Er zeigt, dass man sich durchaus auch ohne Religion, ohne fixes Gedankengebäude, auf den Weg nach innen, auf den Weg zu seinen eigenen Wurzeln machen kann. Genauer gesagt, er zeigt, dass dieser Weg nach innen eigentlich immer dazu führt, dass man Gedankengebäude hinter sich lässt. Meister Eckhart kommt ihm da zu Hilfe, den er in einigen seiner Texte zitiert, bespricht und auslegt. Eckhart hat ja bekanntlich gesagt, man müsse „Gottes ledig werden“, wenn man zur Wirklichkeit durchdringen will. Sprich: die Konzepte über Religion beiseitelassen.

Der Autor legt auch nahe, dass und warum eine solche Praxis gerade heute hilfreich sein kann, in der Zeit der universellen Beschleunigung und des Verlusts der Mitte, in der uns die Fliehkräfte nicht nur von uns wegführen, sondern sogar ganz aus der Bahn zu werfen drohen.

Kann ein Atheist meditieren? Ja, kann er (oder sie), sofern er nicht darauf beharrt, dass sein kognitiver Rahmen, seine atheistische Glaubenshaltung, unverrückbar ist. Denn wenn er meditiert, geht er die Gefahr ein, diese Glaubenshaltung zu verlieren. Das ist das Wesen des Weges nach innen, dass man fixe Meinungen, atheistische wie katholische, agnostische wie buddhistische, hinter sich lässt, weil man sich der Wirklichkeit stellt, seiner eigenen inneren, aber auch der Wirklichkeit, wie sie sich zeigt. Dass dann eine spirituelle Erfahrung nicht unbedingt dazu führt, dass man im klassischen Sinne religiös wird, das diskutiert Brantschen auch an modernen agnostischen Autoren wie André Compte-Sponville  („Woran glaubt ein Atheist?“).

Das Buch ist wie ein Thema mit Variationen. Das Thema ist immer wieder das Gleiche: Warum und wie nach innen wenden? Welche Erfahrungen zeigen sich dort? Welche Konsequenzen hat das für mein Leben? Welche Probleme erwarten mich dort? Wie überwinde ich sie? Wie erreichen wir dauerhaftes und erfüllendes Glück? Das, was die Griechen „Glückseligkeit“ nannten. Der Autor selbst beschreibt es so: „Und so handelt das Büchlein von der Kunst zu beten, zu glauben, zu leben und zu sterben. Und nicht zuletzt von der Kunst zu lieben: ars amandi. Aus all dem wird deutlich, dass es in diesem Buch nicht ausschließlich um das ‚Beten‘ geht. Es ist kein Gebetbuch, sondern will vielmehr eine Handreichung sein für eine weltoffene interreligiöse Spiritualität, die tragfähig ist.“ (S. 9)

Das Buch geht in fünf Schritten vor, die sich in fünf Teilen spiegeln: Vom Beten (ars orandi). Vom Glauben (ars credendi). Vom guten Leben (ars vivendi). Vom guten Sterben (ars moriendi). Von der Liebe (ars amandi). In jedem Teil gibt es kurze Kapitel von 2 bis 4 Seiten. Sie eignen sich gut zu einer besinnlichen Lektüre am Abend, oder zum Nachsinnen durch den Tag hindurch.

Immer wieder taucht ein Grundthema auf: inwiefern sich östliche und westliche Zugänge zur Spiritualität gleichen oder unterscheiden. Dabei lernen Leser von einem Grenzgänger. Denn Niklaus Brantschen ist in der christlichen Tradition genauso zu Hause wie im Zen. Das merkt man an vielen, oft sehr überraschenden Wendungen, wenn er altbekannte Worte, seien es Zitate aus der Bibel, aus der scholastischen Tradition oder von Dichtern in neuen Kontexten beleuchtet, sodass neue Einsichten möglich werden. Aber er kann auch östliche Traditionen, Rituale und Texte so deuten, dass sie für unseren westlichen Kontext verständlich werden. „Das eine tun, das andere nicht lassen“ gehört zu seinen wichtigsten Maximen. Und dann erschließen sich auch so ruppige Konzepte wie das Nichts, dem im Buddhismus eine so wichtige konzeptuelle Rolle zukommt. Es ist nicht einfach der Heideggersche Abgrund. Es ist eigentlich Fülle. Aber das kann man eben nicht mit dem Intellekt allein erfassen. Dazu benötigt man das Herz, dem er auch eine kleine Abhandlung widmet. Und dann füllt sich die Formel, auf die er das Nichts gebracht hat: „Nichts wollen, und das mit ganzem Herzen.“ Das ist die beste und kürzeste Anweisung für spirituelle Praxis, die ich kenne.

Das Büchlein verdient weite Verbreitung. Vielleicht greift es ja mal ein Talkmaster oder Medienmacher auf. Und zeigt dann im Fernsehen wie das geht: Nichts wollen, und das mit ganzem Herzen. Das wäre ein Durchbruch. Dann würden vielleicht viele den Fernseher abschaffen und stattdessen nicht in die Ferne sehen, sondern in die Nähe, nach Innen, in ihr eigenes Innen. Nicht auszudenken, was dann passieren würde. Buddha würde schmunzeln, genauso verschmitzt wie der Dalai Lama manchmal. Und Jesus, da bin ich mir ziemlich sicher, würde auf diesen kulturellen Fortschritt anstoßen.

Literatur

  1. Walach H. Spiritualität: Warum wir die Aufklärung weiterführen müssen. Klein Jasedow: Drachen Verlag; 2015 (orig. 2011).
  2. Walach H. Brücken zwischen Psychotherapie und Spiritualität [Bridges Between Psychotherapy and Spirituality]. Stuttgart: Schattauer; 2021.