Offenkundige und tiefe Fakten

Warum der Begriff „Verschwörungstheorie“ in der Corona-Krise Konjunktur hat und doch nur zur Vernebelung beiträgt, sowie einige neue Entdeckungen

Ich will anhand eines Beispiels einen wichtigen Unterschied deutlich machen, und dieses dann auf den Diskurs in der Corona-Krise übertragen. Nebenbei will ich noch ein paar neue Entdeckungen kundtun.

Offenkundige und tiefe Fakten

Der Unterschied, den ich klären will, ist der zwischen „offenkundigen“ und „tiefen“ Fakten. Um diesen Unterschied zu verdeutlichen, verwende ich ein Beispiel, das hoffentlich für alle einigermaßen nachvollziehbar ist (und ich entschuldige mich dafür, dass es etwas plakativ ist). Familie Meier ist eine ganz normale deutsche Familie. Was man offenkundig von ihr weiß und was Nachbarn von ihr erzählen ist Folgendes: Die Mutter widmet sich hingebungsvoll ihren Kindern. Denn eines von den beiden hat ziemliche Probleme in der Schule, das andere ist relativ schwer an Asthma erkrankt und benötigt ständig umsichtige Hilfe. Denn es ist noch zu klein, um die Erkrankung und die nötigen Medikationen selbst zu organisieren. Der Vater ist sehr viel unterwegs, weil er im mittleren Management einer Firma arbeitet. Doch obwohl er viel auf Reisen ist, ist er für die Familie da. Am Wochenende sieht man sie oft alle gemeinsam mit dem Auto ins Grüne fahren. Die Mutter fährt mit den Kindern zu irgendwelchen Terminen, zur Nachhilfe für den Großen, zu Arztterminen für die Kleine, manchmal zum Eislaufen im Winter oder ins Schwimmbad im Sommer.

Soweit die offenkundigen Fakten. Das was alle sehen, das was alle wissen und die Theorien oder Zusammenhänge, die sie daraus ableiten.

Gute Freunde der Ehefrau oder des Ehemannes, oder vielleicht ein Familientherapeut, den die Familie zu Rate zieht, ohne dass die Nachbarn das wissen, würden vielleicht etwa folgendes zu erzählen haben: Bei Familie Meier brennt’s lichterloh, im übertragenen Sinne. Sie halten das Familiengefüge und den Anschein mit großer Mühe aufrecht. Die Mutter ist schon lange frustriert, weil der Vater auf seinen vielen Reisen fremdgeht und wenn er da ist, wenig emotional verfügbar ist. Der Vater fühlt sich nicht verstanden; daher sucht er immer mal wieder außerhalb der Familie nach Befriedigung und Wärme. Denn er hat einen sehr anspruchsvollen Job, mit dem er die wirtschaftliche Basis zur Verfügung stellt um u.a. die Hypothek zu bezahlen. Er muss die vielen Reisen auf sich nehmen, obwohl er sie manchmal hasst. Aber das versteht seine Frau nicht, die nur die Außenseite sieht. Zwischen diesem Beziehungskonflikt stehen die Kinder und sind mehr oder weniger stark davon mitgenommen. Der Älteste, obwohl eigentlich intelligent, bringt sein Leiden durch Verweigerung in der Schule zum Ausdruck, die Jüngste hat Asthma entwickelt. Dass dieses Asthma eine starke psychische Komponente hat, hat erst der kürzlich hinzugezogene Familientherapeut erkannt, der nun versucht, das System zu rekalibrieren. Evtl. gelingt ihm das sogar, wollen wir mal abwarten.

Diese zweite Perspektive zeigt das auf, was ich „tiefe Fakten“ nenne: Dinge, die durchaus faktisch richtig und „wahr“ sind, soweit man in zwischenmenschlichen Bereichen von Wahrheit sprechen kann, die aber von außen nicht sichtbar sind.  Man nimmt sie nur wahr, wenn man etwas tiefer blickt und mehr Informationen – vor allem privilegierte Informationen –  hat, um die man sich bemühen muss. Man erhält sie, wenn man etwa mit einem der Partner befreundet ist, oder wenn man, wie ein Therapeut, etwas tieferen Einblick bekommt, oder vielleicht auch, wenn man von außen mit Hintergrundkenntnis und Anteilnahme darauf blickt und sich ein bisschen mit den Menschen der Familie Meier abgibt.

Vielleicht ist meine Unterscheidung in „offenkundige“ und „tiefe“ Fakten ein bisschen trivial. Ich halte sie aber für sehr wichtig, um die Situation des Landes, ja der Welt, in der Corona-Krise zu verstehen.

So ähnlich, wie die Familie Meier natürlich alle Kraft darauf verwendet, die Fassade der „guten Familie“ nach außen aufrechtzuerhalten, denn von ihr hängt viel ab – sozialer Status, Respekt, Bonität, Selbstachtung -, so ähnlich versuchen derzeit auch die politischen Institutionen einen Schulterschluss, um die offizielle Geschichte, das „Mainstreamnarrativ vom Killervirus“, wie ich es einmal nennen will, aufrecht zu erhalten. Das geschieht durch das Rezitieren offenkundiger Fakten. Die kann man im Fernsehen bestaunen, in den Zeitungen lesen und in offiziellen Verlautbarungen.

So ähnlich wie es bei der Familie Meier „tiefe“ Fakten gibt, so auch hier in der Corona-Krise. Die „tiefen“ Fakten der Meierschen Familiendynamik sind alles andere als leicht zu durchschauen. Frau Meier wird eine andere Sicht haben als Herr Meier, und beide wieder andere Sichtweisen als die Kinder. Aber alle haben sie auf ihre Weise recht. Das erinnert mich an den alten Witz vom Rabbi und seinen Schülern: Kommen zwei Talmud-Schüler zum Rabbi. Einer legt seine Sicht dar. Der Rabbi sagt: „Du hast recht.“ Wehrt sich der andere und legt seine Auslegung dar, die dem entgegensteht. Sagt der Rabbi: „Ja, Du hast recht.“ Ein dritter, der dabeisteht, sagt: „Aber Rabbi, es können doch nicht beide recht haben! Sie widersprechen sich ja!“ Sagt der Rabbi: „Ja, Du hast auch recht.“

In solchen komplexen familiendynamischen und auch sozialen politischen Dynamiken gibt es nicht die eine Wahrheit. Es gibt viele Perspektiven. Manche sind mehr an der Oberfläche. Manche blicken tiefer. Entscheidend ist: Es gibt fast immer „tiefe“ Fakten, die man nur sieht, wenn man durch den Schein der Oberfläche dringt. Im Fall des Familienbeispiels muss man Zeit aufwenden und sich mit den Einzelschicksalen und den Dynamiken der Familienmitglieder vertraut machen. Im Fall der Corona-Krise muss man hinter die Kulissen der offenkundigen Fakten blicken. Man muss die „tiefen“ Fakten zur Kenntnis nehmen, und zwar alle, auch die, die einem nicht in den Kram passen. Nur so hat man eine Chance, sich einem Verständnis anzunähern.

Daher ist die Verunglimpfung all derer als „Verschwörungstheoretiker“, die versuchen sich „tiefen“ Fakten zu nähern, die man derzeit in der Presse und in der Welt der sozialen Kommunikation beobachten kann, sehr kontraproduktiv. Denn dieses Wort sagt alles und nichts. Mittlerweile ist schon ein jeder, der eine Meinung äußert, die der offiziellen Meinung widerspricht, ein Verschwörungstheoretiker. Das ist der klassische Weg der Diskursverengung und des Versuches, Deutungshoheit über die Wirklichkeit unter erschwerten Bedingungen zu erlangen. Meistens führt sowas ins Chaos oder in die Spaltung. Denn die Essenz demokratischer Gesellschaften ist der Diskurs, also das Abwägen zwischen widersprechenden Interpretationen der Wirklichkeiten. Und dieser Diskurs, das Vorhandensein unterschiedlicher Interpretationen ein und derselben Situation, kommt eben daher, dass unterschiedliche Akteure unterschiedlich tiefe Einsichten in „offenkundige“ und „tiefe“ Fakten haben.

Offenkundige Fakten sind etwa: Leute werden krank in der Corona-Krise. Menschen sterben, manche kausal durch das Virus, manche assoziiert mit ihm, manche einfach so. Schon hier beginnen die tiefen Fakten: Wie viele sterben wirklich an dem Virus, kausal? Wie viele einfach mit ihm? Anfangs wussten wir es nicht. Jetzt wissen wir, dass ein großer Teil der Verstorbenen, zumindest bei uns, ohne das Virus vielleicht noch um einiges länger gelebt hätte. Mittlerweile haben wir eben Zählsysteme, die alles Mögliche zählen, in manchen Ländern wie Belgien sehr weit gefasst, in anderen Ländern sehr eng gefasst. Tiefe Fakten wären zum Beispiel, diese Todesfälle standardisiert zu präsentieren. Tut kaum wer in der öffentlichen Diskussion, soweit ich sehe. Oder sie in Relation zu setzen. Wer das tut, setzt sich schon dem Vorwurf aus, die Situation nicht ernst zu nehmen, ein Leugner oder Idiot zu sein, oder, noch schlimmer, ein Verschwörungstheoretiker. Hier beginnen die sozialen Ausgrenzungsmechanismen zu greifen. Wir alle wollen dazugehören. Weil keiner ausgegrenzt sein will, beginnt die Schere im Kopf: bloß diesen Gedanken nicht denken; bloß diese Frage nicht stellen; auf keinen Fall dem Zweifel Raum geben.

Würde die Familie Meier mitten im Drama sich selbst und der Außenwelt gegenüber zugeben, dass hier was im Argen liegt, müsste sie sich komplett neu organisieren. Das tun Menschen nur unter höchstem Druck und wenn es nicht anders geht, aber auf jeden Fall ungern. Also weiter so, und mal schauen, ob wir eine oberflächliche Lösung finden.

Die offenkundigen Fakten in der Corona-Krise sind allen bekannt: Ein Killervirus fordert viele Menschenleben, wenn sie nicht geschützt werden. Man muss die Menschen auch vor sich selber schützen, weil sie zu doof sind, das für sich zu tun. Und man muss die Menschen auch gegen ihren Willen vor sich selber schützen, denn sonst gefährden sie andere. Denn wir sehen ja an den steigenden „Zahlen“, wie stark sich dieses Virus ausbreitet, immer wieder neu, Fälle über Fälle. Dass Fälle zu Todesfällen führen, das ist doch irgendwie klar. Das muss nicht weiter bewiesen werden. Dass wir dieser Gefahr nichts entgegenzusetzen haben, außer staatliche „Maßnahmen“ und Impfungen, das ist irgendwie auch klar und muss nicht weiter diskutiert werden.

Es sind diese offenkundigen Fakten – die ja auch nicht falsch sind, sondern einfach nur eine einseitige Perspektive -, die alles beherrschen. So ähnlich wie die Außendarstellung der Familie Meier auch nicht falsch ist, sondern einseitig. Sie zeigt nur einen Bruchteil der Wahrheit.

Würde man hinter die Fassade blicken und nach den „tieferen“ Fakten Ausschau halten – und ich will beileibe nicht suggerieren, dass ich sie alle sehe und verstehe, ich biete einfach eine andere Perspektive – dann sieht man eine andere Geschichte, sogar viele andere Geschichten, so ähnlich wie bei der Familie Meier jedes Familienmitglied eine andere Geschichte erzählen würde.

Tiefe Fakten: 1. Niedrige Assoziation zwischen Fallzahlen und Todeszahlen

Da ist zum einen die erstaunlich niedrige Assoziation der Fallzahl mit der Todeszahl in einem Land. Diese Assoziation, das haben wir in einer Modellierstudie gezeigt, die derzeit im Review-Prozess ist, erklärt maximal 5-7% der Variation in den Todesfällen [1]. Würde es sich um ein „Killervirus“ handeln, dann müsste die Anzahl der Fälle in einem Land mit der Anzahl der standardisierten Todesfälle wesentlich höher zusammenhängen. Die frühen Modelle, von denen alle ausgingen und die immer noch in den Köpfen der Verantwortlichen herumspuken, gehen davon aus, dass 70% krank werden, von denen die Hälfte im Krankenhaus landen, von denen 30% auf Intensivstationen landen und von denen 5% oder mehr versterben: 500.000 in Ländern wie Deutschland und England 2.5 Millionen in den USA[2]. Das ist definitiv falsch. Hat diese gute Nachricht je irgendwer laut verbreitet? Hat je irgendwer die Tatsache zur Kenntnis genommen, dass offenbar die Assoziation zwischen Erkrankung und Todesfall sehr niedrig ist?

Das würde uns nämlich zeigen, dass die große Angst, die verbreitet wurde und wird, nicht gerechtfertigt und sehr kontraproduktiv ist. Aber dummerweise haben Narrative die Tendenz, sich zu verfestigen, auch wenn sich die Substanz als falsch erwiesen hat. Das nennen wir dann Legende.

Tiefe Fakten: 2. Geringe Effektivität nichtpharmakologischer oder politischer Maßnahmen

Es will keiner, vor allem keiner in der politischen Riege hören, aber es zeigt sich zunehmend: Die anfänglichen rasch publizierten Modelle, nach denen es einen Beweis für die Wirksamkeit politischer Maßnahmen gibt [3, 4], sind nicht haltbar. Das wurde schon bald klar, aber da war es schon zu spät. Da waren diese Modelle schon publiziert, die Gegenmeinungen und andere Analysen wurden in sekundäre Journals abgedrängt, keiner nahm sie mehr zur Kenntnis[5-10]. Wir haben in unserer Modellierstudie gesehen: Die Variation der Todesfälle in Europa ist völlig unabhängig davon, ob Länder stark oder weniger stark eingeschränkt haben, Schulen, Restaurants, etc. geschlossen haben. Wir haben in dieser zweiten, verbesserten Version unserer Modellierung [1] den Oxford-Tracker verwendet, der tagesaktuell die politischen Maßnahmen verfolgt und standardisiert in einen Score überführt; arg viel präziser geht es nicht. Wir sehen keinen, in Zahlen Null, Zusammenhang zwischen der Härte der politischen Maßnahmen und der Variation der Todeszahlen. Hier ist eine kleine Tabelle, die das illustriert. Ich hatte eine solche Tabelle schon einmal gezeigt, hier nochmals, mit tagesaktuellen, standardisierte Todesfallzahlen aus der Worldometer.info-Statistik von heute, 5.5.21 und Daten aus dem Oxford-Tracker des politischen Stringency Index.

LandTodesfälle pro 1 Million EinwohnerStingency Index 7.4.21
Norwegen12947,14
Finnland16540,62
Deutschland100357,85
Niederlande100354,89
Ukraine103654,14
Uruguay82146,09
Brasilien1.92659,46
Italien2.01663,30
Israel69260,11

 Länder, die eine niedrige Todesfallrate pro 1 Million Einwohner haben wie Norwegen und Finnland, haben sehr unterschiedliche Maßnahmen gesetzt. Deutschland und Niederlande, die identische Todesfallraten haben, sind leicht anders damit umgegangen. Ein Land wie Uruguay, das wesentlich legerer mit der Krise umgeht, hat weniger Todesfälle auf 1 Million Einwohner als Deutschland und halb so viele wie Brasilien, obwohl es angrenzt und ethnisch vermutlich vergleichbar ist. Brasilien hat übrigens einen deutlich schärferen Umgang gezeigt, als in der deutschen Presse kolportiert wird, wie man sieht. Das Land mit den härtesten Maßnahmen, Italien, hat auch die meisten Todesfälle. Man sieht an dieser Auswahl, die in unserer Modellierstudie systematischer ist: Die politischen Maßnahmen tragen kaum etwas zur Klärung der Variation in den Todesfällen auf.

Ich wollte es etwas genauer wissen und habe mir den Stringenzindex vom Oxford Policy Tracker damals, am 7.4.21. und heute am 5.5.21 heruntergeladen. Das Institut für Politik monitort alle Länder und stellt einen Index zusammen, der die Stringenz aller politischen Maßnahmen zur Abwehr von Covid-19 erfasst. Der Index ist genormt und reicht von 0 bis 100. Ich habe die Zeitreihe Anfang April gemittelt und jetzt wieder. Daraus ergeben sich zwei Indizes für die Stringenz der politischen Maßnahmen aller Länder dieser Welt Anfang April und Anfang Mai. Diese habe ich beide mit den auf 1 Million Einwohner standardisierten Todesfällen in jedem Land korreliert. Die Ergebnisse sieht man in den folgenden beiden Abbildungen. Abbildung 1 zeigt die Korrelation heute, am 5.5.21. Jeder der blauen Punkte stellt ein Land dar. Unten ist die mittlere Stringenz der politischen Maßnahme über das Jahr bis zum 5.5.21 (bzw. bis zum 7.4.21 in Abbildung 2) abgetragen und links die Anzahl der Covid-19 Todesfälle auf 1 Million Einwohner standardisiert.

Abbildung 1 – Korrelation der standardisierten Todesfälle am 5.5.21 weltweit mit der Stringenz der politischen Maßnahmen (Daten: https://www.worldometers.info/coronavirus/vom 5.5.21 und Oxford Policy Tracker am 5.5.21)

Die Anzahl der auf Einwohnerzahl standardisierten Todesfälle ist höher, je mehr politische Maßnahmen gesetzt werden. Die Korrelation ist sehr moderat, r = .26, aber hochsignifikant (p = .0005) und erklärt etwa 6% der Variation (r2 = 0.068).

Die Abbildung 2 zeigt die Korrelation der Todesfälle heute mit der Stringenz der Maßnahmen gemittelt bis zum 7.4.21, also einen Monat vorher. Eine solche zeitversetzte Korrelation könnte im Prinzip Kausalität klären. Denn wenn die Maßnahmenstärke bis zum 7.4.21 eine ursächliche Rolle für die Abnahme von Todesfällen spielen würde, müsste man eine negative Korrelation sehen: je stärker die Maßnahmen bis zum 7.4.21 in der ganzen Welt, umso niedriger müssten die Todesfälle heute sein. Sind Sie aber nicht. Sehen Sie selbst:

Abbildung 2 – Zeitversetzte Korrelation der Stringenz der Maßnahmen vor einem Monat (7.4.21) mit den Todesfällen heute (5.5.21) (Daten: https://www.worldometers.info/coronavirus/vom 5.5.21 und Oxford Policy Tracker am 7.4.21)

Diese zeitversetzte Korrelation zeigt genau die gleiche Struktur: je stärker die Maßnahmen damals, am 7.4.21 waren, umso höher sind die Todesfälle heute. Die Korrelation ist etwa genauso groß wie die im Scatterplot von Abbildung 1. Wie gesagt, wenn die Maßnahmen eine Reduktion der Todesfälle erreichen würden – und was sonst sollen Sie erreichen? -, dann müsste diese Korrelation negativ sein: je stärker die Maßnahmen am 7.4.21, umso geringer die Zahl der Toten heute.

Ich wollte es ganz genau wissen. Ich habe daher eine neue Variable gebildet. Sie bildet den Unterschied der mittleren Stringenz der Maßnahmen bis zum 7.4.21 und bis zum 5.5.21 ab. Sie stellt damit dar, welche Länder seit dem 7.4.21 ihre Maßnahmen eher verstärkt und welche sie eher abgeschwächt haben. Ist die Differenz negativ, haben Länder ihre Maßnahmen abgeschwächt, ist sie positiv, haben sie sie verschärft. Das bedeutet: Eine Zunahme der Stringenz drückt sich in einem positiven Wert aus, eine Abnahme in einem negativen Wert. Über alle Länder hinweg steigt die Stringenz der Maßnahmen in der ganzen Welt leicht und signifikant an, habe ich bei einem Vergleich aller Mittelwerte gesehen. Das Überraschende ist, siehe Abbildung 3, dass die Zunahme der Stringenz der Maßnahmen mit einer Zunahme der Todesfälle korreliert ist.

Abbildung 3 – Korrelation der Veränderung der Stringenz von politischen Maßnahmen vom 7.4. bis zum 5.5.21 mit den standardisierten Todesfällen am 5.5.21

Offenkundig führt die Zunahme von irgendwelchen Maßnahmen nicht zu einer Abnahme von Todesfällen, wie man eigentlich erwarten würde, sondern zu einer Zunahme. Der Anstieg ist nicht drastisch (r = 0.28), aber hochsignifikant (p = .0002) und in etwa so wie bei den anderen Plots. Das kann man auf unterschiedliche Weise interpretieren. Möglicherweise reagieren Regierungen einfach auf zunehmend kritische Situationen mit irgendwelchen Maßnahmen: Schulen schließen, Restaurants schließen, Ausgangssperren. Aber diese Maßnahmen verhindern nichts, sondern sind einfach mit einer Zunahme der Fälle assoziiert. Möglicherweise verschlimmern die Maßnahmen aber auch eine kritische Situation und verursachen Todesfälle: Menschen haben weniger soziale Kontakte, die Angst steigt, die Einsamkeit, die Möglichkeit von Menschen in armen Ländern ihr Brot zu verdienen sinkt, die Arbeitslosigkeit steigt. All dies könnte zu einer Zunahme von Todesfällen führen. Welche der beiden Interpretationen stimmt, kann man aus einer Korrelation nicht herauslesen. Nur eines kann man sehen: Die Maßnahmen verhindern keine Todesfälle. Man sieht an diesen Scatterplots auch, dass viele Länder mit sehr geringen Todeszahlen offenbar relativ drastische Maßnahmen ergreifen. Warum? Sie befürchten anscheinend, dass die Situation entgleist. Aber offenbar ist politischer Lockdown keine Antwort auf infektiologische Probleme. Tiefe Fragen: Warum merkt das niemand und steuert um?

Das heißt nicht, dass man gar nichts tun soll. Aber das heißt, dass viele Maßnahmen vermutlich eher einer Schockreaktion geschuldet sind, als dass sie irgendwelche schützenden Effekte haben. Ich weiß, es gibt auch andere Analysen, vor allem aus der Anfangszeit der Pandemie. Diese sind extrem wirkmächtig gewesen, weil sie eine Blaupause für politisches Handeln hergaben und dieses legitimiert haben. Dass diese Modelle teilweise falsch waren, teilweise so anfällig für Annahmen, dass sie wertlos sind, und dass sie manchmal sogar einfach eklatant daneben lagen, das hat dann schon niemanden mehr interessiert [10]. Möglicherweise wäre eine sehr differenzierte Betrachtung – Abwägen von Home-Office, Reduktion von Kontakten und öffentlichem Verkehr – hilfreich. Denn dort zeigen sich Effekte. Aber insgesamt ist ein differenzierterer Umgang offenbar hilfreicher als ein pauschaler [11].

Man müsste diese Analyse sehr viel sorgfältiger machen als ich, wenn man wirklich wissen wollte, ob solche Maßnahmen etwas bringen. Tiefe Fakten, tiefe Fragen: Warum macht das eigentlich keiner am RKI regelmäßig, meldet es der Politik zurück, so dass diese ihre Maßnahmen anpassen kann – und der Öffentlichkeit, so dass diese versteht, warum die Politik was macht? Warum operieren wir mit völlig sinnfreien „Zahlen“, wie „Inzidenzen“, bei denen es nicht um Erkrankung, sondern um einen fragilen Laborwert geht?

Meine Analyse bezieht sich nicht auf Deutschland, sondern auf alle Länder der Welt. Sie ist damit sehr grobkörnig, aber mächtig. Soweit ich sehe, gibt es keine wirklich robuste Datenlage dafür, dass die massiven Maßnahmen irgendetwas verbessert hätten.

Das soll nicht heißen, dass Public Health und öffentliche Gesundheitsvorsorge falsch sind. Im Gegenteil. Es soll heißen, dass man mangelnde öffentliche Gesundheitsvorsorge nicht mit dem politischen Holzhammer geradebiegen kann. Was wir bräuchten, wäre sehr viel mehr Personal in der öffentlichen Gesundheitsvorsorge, das sich gezielt kümmern kann, und keine pauschalen Vorgaben.

Tiefe Fakten 3: Impfungen werden das Problem wohl nicht lösen

Ich habe in meinem vorletzten Blog auf die Problematik der Impfungen hingewiesen. Es gibt eine doppelte Problematik: zum einen die, dass die Effektstärken klein sind, weil die Prävalenz der Infektion niedrig ist. Die Prävalenz von CoV2 Infektionen lag in der israelischen Impfstudie anfangs bei 0,5% und am Ende der Beobachtungszeit maximal um die 3% [12]. Sie liefert die vielleicht beste Schätzung, weil sie die einzige wirklich großangelegte Beobachtungsstudie ist, die mir bekannt ist (und nochmals, tiefe Frage 2: Warum hat unser RKI nicht schon von Anbeginn eine sehr große, sehr lange, longitudinale Beobachtung aufgesetzt?). Und wir wissen jetzt: Die Prävalenz ist nicht deswegen so niedrig, weil wir alle mit Maske herumlaufen und die Läden zu sind – vielleicht trägt das ein kleines bisschen bei, aber garantiert nicht viel (siehe oben und Abb. 1-3).

Wenn die Prävalenz einer Infektion so niedrig ist, dann muss man sehr viele Impfungen durchführen, um einen Effekt zu sehen. Und dann sind die Nebenwirkungen relevant, die von solchen Impfungen ausgehen. Ich habe in meinem vorletzten Blog sehr grob gerechnet und mich dabei verschätzt. Mein Kollege Rainer Klement ist ein besserer Rechner und kennt sich auch mit Kaplan-Meier Kurven besser aus als ich und hat die Daten der israelischen Impfstudie genommen und die Sache genauer berechnet. Wir wissen jetzt: wir müssen zwischen 9.000 und 100.000 Menschen impfen – so weit sind nämlich die 95% Konfidenzintervalle – um einen Todesfall durch eine Impfung zu verhindern; eine gute Schätzung in der Mitte ist wohl ca. 20.000 – 33.000. Wir müssen also ungefähr 100.000 impfen, um ungefähr 3 – 5 Todesfälle zu verhindern.

Ich habe in meinem vorletzten Blog auch die Daten von Wouter Aukema zitiert. Einige Zuschriften haben mich erreicht, die diese Daten angezweifelt haben. Ich habe mich daraufhin mit Wouter Aukema in einem langen Gespräch über die Art unterhalten, wie er die Daten gewonnen hat. Ich bin überzeugt, dass er richtig arbeitet. Er ist nämlich ein sehr guter Datenanalytiker und hat sich die einzelnen Fälle mit einem Programm herausgeholt und angesehen (Die Differenzen, die manche entdeckt haben mögen, kommen daher, dass die EMA-Datenbank alle Nebenwirkungen berichtet, wir uns aber auf einzelne Fälle stützen, die oft mehrere Nebenwirkungen berichten). Seine Analyse der Anzahl der Todesfälle stimmt (der wissenschaftliche Aufsatz, den wir verfasst haben, liegt gerade bei einer Zeitschrift, daher kann ich jetzt diese neuen Daten nicht einfach publizieren, melde mich aber damit, wenn es geht). Wir nehmen, wenn man die Datenbank der EMA zu den Nebenwirkungen der Covid-Impfstoffe nimmt, derzeit 2,7 Todesfälle auf 100.000 Impfungen in Kauf. Grob gerechnet ist das also der Faktor 1:2 (und damit lag ich in meiner früheren Schätzung ziemlich richtig). Wenn wir 100.000 Todesfälle durch Impfungen verhindern, dann erzeugen wir oder nehmen wir etwa 50.000 Todesfälle in Kauf, die durch die Impfung mittelbar oder unmittelbar verursacht werden. Das ist eine noch nie dagewesene Größe. Die Nebenwirkungen, die ebenfalls enorm sind, sind dabei nicht eingerechnet. Für jeden verhinderten Todesfall müssen wir etwa 3 bis 34 Fälle mit schweren Nebenwirkungen akzeptieren. Ist das vernünftig? Ist es ethisch akzeptabel?

Mittlerweile gibt es für 2 von 4 Covid-19 Impfstoffen sogenannte „Rote Hand“ Briefe des Paul Ehrlich Instituts an Ärzte. Diese warnen vor gefährlichen Nebenwirkungen, nämlich vor dem Zusammenhang zwischen Thrombosen und dem Janssen Impfstoff (Johnson & Johnson) und dem AstraZeneca Impfstoff. Wie hieß es noch vor gar nicht langer Zeit? Wer behauptet, die Covid-19 Impfstoffe seien nicht sicher, ist ein Verschwörungstheoretiker. Thrombosen gehören zu den gefährlichen Gefäßpathologien, vor denen Kritiker von Anfang an gewarnt haben [13].

Tiefe Fakten: 4. Blindwütige Testeritis führt uns in die Sackgasse

Ein Leser meines Blogs hat mir eine Kritik geschickt. Ich würde die richtigen Zahlen der Sensitivität und der Spezifität der PCR-Tests nicht kennen. Ich kenne sie sehr wohl. Ich weiß, dass die Ringtests sehr hohe Spezifität und Sensitivität ergeben haben [14, 15]. Die freie Wildbahn ist aber kein Labor. Die Testwerte in irgendwelchen Kontexten können nicht mit den Daten der Ringtests verglichen werden. Daher habe ich die Werte der British Medical Journal-Analyse zugrunde gelegt[16]. Diese Zeitschrift ist nicht für Nähe zu Verschwörungstheorien bekannt und berichtet einfach nur solide Wissenschaft. Diese Analyse zeigt sehr schlüssig: Die Anzahl von falsch Positiven steigt, wenn die Prävalenz einer Infektion niedrig ist und das Testen ohne Anlass geschieht, was genau jetzt der Fall ist. Denn dann sind die meisten positiven Resultate eben wertlos. Und dass die Prävalenz niedrig ist, das wissen wir. Die rapportierten „Zahlen“ und „Inzidenzen“ sind Nebelkerzen. Wenn wir die Anzahl der Tests beliebig erhöhen, erhöhen wir auch die Inzidenzen, auch wenn diese auf Testanzahl standardisiert sind. Denn wenn wir mit einem hypersensiblen Test, der bei allen möglichen Leuten positive Werte angibt, sehr viele anlasslos testen, erzeugen wir genau die Zahlen, die wir fürchten. Der Aussagewert geht praktisch gegen Null. Viele fragen sich, aus meiner Sicht völlig zu Recht, was das soll. Mich erinnert das an ein Kinderspiel: Selbstschreck. Das geht so: Man legt sich die Hand hinten auf den Kopf und fährt ganz, ganz langsam von hinten nach vorne. Wenn man kurz über dem Gesicht ist, fährt man ganz schnell nach unten und ruft lauf: Huch! Erschrecken garantiert, auch ohne Anlass.

Tiefe Fakten: 5. Der Wirt ist wichtiger als der Erreger

Dann beginnt das Narrativ von vorne: … ja, weil wir ein gefährliches Virus vor uns haben, das uns alle umbringen kann. Nein, kann es nicht. Es kann zwar eine Zahl von Leuten schädigen, aber erstens nicht alle, zweitens nicht alle die es erreicht schwer, und drittens viel weniger als wir befürchtet haben sehr schwer. Ja, ich weiß, es gibt schwere Verläufe, lange, mühsame Genesungsprozesse. In meinem Bekanntenkreis sind einige davon. Die gab es immer schon, wo virale Erkrankungen Fuß fassen. Aber es ist eine weitere Illusion, dass man das verhindern könnte, indem man „das Virus bekämpft“, „Corona besiegt“ und „ihm keine Chance“ gibt. Ich finde solche Slogans zwar eingängig, aber dumm. Wir können Viren nicht besiegen und bekämpfen [17]. Wir können nur lernen, mit ihnen zu leben. Wenn jetzt jemand mit dem Kampf gegen Pocken kommt, dann möge er oder sie bedenken: Mit den Pocken haben wir seit ca. 2000 Jahren zu tun gehabt. Die ersten dokumentierten Ausbrüche gab es im römischen Reich, vielleicht sogar schon früher[18]. Seither haben sich Menschen immunologisch mit den Pocken auseinandergesetzt. Viele sind verstorben. Die Überlebenden haben starke Immunität ausgebildet. Und ganz am Ende hat steigende Prosperität, Hygiene, und die Impfung die Krankheit besiegt. Diejenigen Krankheiten, die an die Stelle der Pocken getreten sind, wollen wir jetzt lieber nicht aufführen. Weist das nicht vielleicht eher darauf hin, dass es eine Ökologie auch der Erreger und Wirte gibt? Zeigt das nicht viel eher, dass es eine lohnendere Strategie ist, sich um den Wirt zu kümmern, als den Erreger zu bekämpfen?

Unsere bereits erwähnte Modellierstudie [1] hat nämlich auch gezeigt, dass ein Wirtsfaktor, die Versorgung mit Vitamin D, einen wesentlich stärkeren Vorhersagewert hat als die Anzahl der Testpositiven, wenn man die Variation in den Todesfällen in unterschiedlichen Ländern verstehen will. Dazu kommt noch die Anzahl der Grippegeimpften bei den über 65-Jährigen: je mehr gegen die Grippe geimpft sind, desto höher die Anzahl der an Covid-19 Gestorbenen in einem Land. Das kann natürlich mit noch vielen anderen Faktoren zusammenhängen, die wir nicht erfasst haben. Es kann auch sein, dass die Grippeimpfung dazu führt, dass Menschen, die dann nicht an Grippe sterben, eben an der nächsten Krankheit sterben. Aber es zeigt, dass die Wirtsfaktoren höchstwahrscheinlich wesentlich wichtiger sind, als der Erreger selbst. Jedenfalls in einer Situation wie dieser. Warum kümmern wir uns nicht mehr um den Wirt? Ausreichend viele Daten wären eigentlich vorhanden, um zu verstehen, wer besonders anfällig ist.

Tiefe Fakten: 6. Kollateralnutzen

Man versteht die ganze Dynamik glaube ich besser, wenn man von einem Netzwerk von Nutznießern ausgeht, die alle an der momentanen Situation verdienen oder von ihr profitieren. Die pharmazeutische Industrie konnte in einer Blitzgeschwindigkeit neue Technologien für die Impfung einführen, die vorher jahrelang vor sich hingedümpelt sind und für die sie höchstwahrscheinlich nie eine Freigabe erhalten hätte, wäre nicht die Corona-Krise gekommen. Viele andere profitieren davon, aber wenn ich das jetzt alles erwähne, dann ist die Verschwörungstheorie perfekt. Ich empfehle allen diesen Beitrag von Gunnar Jeschke, der ein bisschen die Netzwerke derer, die profitieren und die aktiv sind recherchiert hat.  Man müsste das zum Anlass nehmen und eine formale Netzwerkanalyse machen, um all die Querverbindungen zu analysieren. Wo sind die investigativen Journalisten, die Presse, die Fernsehreporter, zu deren Job das eigentlich gehören würde? Haben sie nicht eher in aller Regel Gehirnmasken gebastelt, statt die tiefen Fakten auszuleuchten?

Tiefe Fakten: 7. Die Mutationen

Ja, aber da gibt es doch diese vielen Mutationen, die vielleicht noch viel gefährlicher sind, die brasilianische, die südafrikanische, die englische, womöglich bald die bayrische und die tirolerische! Ich will nur daran erinnern: Seit dieses Virus zum ersten Mal sequenziert worden ist, hat die Mutationsdatenbank Cov-Glue über 42.000 Mutationen erfasst.  Dabei sind nur die erfasst, bei denen mehr als 10 Aminosäuren ersetzt worden sind. Das sind alles Varianten von SARS-CoV2, dem Schreckensvirus. (Ich möchte an dieser Stelle „Johannes Kreis“ danken, der die, die es wissen wollen, mit interessanten Informationen bedient). Würde man alle Varianten dazurechnen, wären es noch viel mehr. Das originale Wuhan-Virus gibt es schon lange nicht mehr. Es ändert sich dauernd. In Windeseile. So wie auch das Grippevirus und andere Viren. Das ist ja das Problem mit den Grippeimpfungen: gegen manche Mutanten sind sie wirksam, gegen wieder andere überhaupt nicht. Und nun glauben wir, wir könnten gegen diese sich schnell ändernde Evolution der Viren und Wirte mit einer Impfkampagne angehen? Brauchen wir dafür jetzt tausende von verschiedenen Impfstoffen?

Offensichtliche Fakten: Der Niedergang der Kultur und die Bedrohung der Kunst

Diejenigen, die in einer Gesellschaft die tiefen Fakten normalerweise ans Licht holen sind die Künstler: die bildenden, die Filmemacher, die Regisseure und Theatermacher, Sänger, Schauspieler, Kabarettisten. Sie alle sind akut durch die politischen Maßnahmen bedroht. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Wer genau soll vor wem geschützt werden? Und wie genau? Ich habe vor Zeiten schon ein Künstlerpaar im Zug nach Wien kennengelernt. Melanie Musegg macht Filme mit kleinen Plastillinfiguren. Im Zug hat sie eine Figur mit Maske gefilmt und aus der ca. 7 Stunden langen Fahr von Berlin nach Österreich einen kurzen Film geschnitten. Gerade versucht sie, über Crowdfunding Geld für ihr nächstes Projekt zu finden, einen Film zu Mitgefühl für Kinder. Weil ich dieses Anliegen gerne unterstütze, mache ich hier ein bisschen Werbung für dieses Projekt. Hier ist zum Beispiel ein Bild von ihr, das ich ganz passend zu unserem Kontext finde (ich danke Melanie Musegg, dass ich es verwenden darf).

Tiefe Fakten: 8. Der Begriff „Verschwörungstheorie“ lenkt ab

Ich lese gerade ein Buch, das vermutlich eine der ersten Verwendungen des Begriffs „Verschwörung“ im modernen Kontext dokumentiert. Hoover warnte als Chef des FBI im Jahre 1953 das Weiße Haus vor einer „Verschwörung“: Senator McCarthy, der erzkonservative Kommunistenjäger, und eine Clique Gleichgesinnter war dabei, Präsident Eisenhower zu sabotieren und McCarthy selber aufs Ross zu heben („Hoover warned the new administration that he had learned there was a ‚conspiracy‘ to sabotage Eisenhower’s presidency and replace Ike with the hard-charging Wisconsin senator [also McCarthy]“[19, S. 206]. Verschwörungstheorien, so zeigen neuere soziologische Analysen[20-23], können nur dort gedeihen, wo etwas verschleiert wird, wo Fakten nicht ausreichend beleuchtet werden oder wo es wirklich im Hintergrund derartige Aktivitäten gibt. Ob das nun bei dieser Krise so ist oder nicht, will ich nicht diskutieren, weil ich es nicht weiß. Aber eines weiß ich: Der Versuch, Andersdenkende durch diesen Begriff mundtot zu machen und vom Diskurs, ja vielleicht sogar aus der Gesellschaft auszuschließen, ist extrem gefährlich. Er spaltet und klärt nicht auf. Vielleicht gibt es ja wirklich keine Agenda, und das hilflose Einwaggonieren der Politik ist einfach genau dem geschuldet: der Hilflosigkeit. Aber man fragt sich, warum sich die Politik noch immer nicht breiter beraten lässt. Warum werden Argumente wie zum Beispiel die, die ich seit ca. einem Jahr mit großer Regelmäßigkeit vortrage, konsequent ignoriert? Warum werden prominente und wesentlich kompetentere Kritiker als ich, wie Hockertz und Bhakdi, nicht in politischen Kreisen angehört? Und dass sie es nicht werden weiß ich, weil ich mit ihnen im Gespräch bin. Wenn man sich das Dokument ansieht, das über das Zustandekommen der ersten Expertise zur politischen Reaktion in diesem Lande berichtet, dann fragt man sich: wie gibt es das, dass in einem solchen Zirkel, der Maßnahmenkataloge für die Zukunft vorschlagen soll, keine breite Kompetenz versammelt ist, sondern ausschließlich Menschen mit einem gleichsinnigen Hintergrund?

Ich glaube, es wäre gut, wenn die Politik endlich anfangen würde, Fehler zu sehen, andere Sichtweisen ernst zu nehmen und die Ablenkung von den tiefen Fakten auf die offensichtlichen hin beenden würde.

Kehren wir zu unserem Ausgangsbeispiel zurück: Es erfordert sehr viel Kraft, verschleudert Ressourcen und trägt am Ende nicht zu einem gedeihlichen Zusammenleben bei, wenn Familie Meier versucht, mit aller Gewalt den Schein aufrechtzuerhalten. Man muss sich zwischen zwei Übeln entscheiden: die Gesundheit der Kinder und die eigene ruinieren, oder klar Schiff machen, auch wenn es weh tut. So auch hier. Es wäre an der Zeit, die tiefen Fakten öffentlich zu machen und mindestens die, die es wert sind ernstgenommen zu werden, in einen klaren, offenen Diskurs einzubringen.

Ich mag mich ja in mancher Hinsicht täuschen. Ich übersteure vielleicht auch manchmal und bin auch auf einem Auge blind. Aber ich liege vielleicht in manchen Dingen richtig. Und wenn ich nur zu einem sehr kleinen Anteil richtig liege, dann ist das, was im Moment passiert einfach nicht akzeptabel. Es ist, als würde Mutti Meier zu ihrem Mann sagen: Was hast Du denn? Es ist doch alles bestens! Ist es eben nicht. Und das sollte man vielleicht einmal zugeben und besprechen.

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