Überlegungen zu einem „skeptischen“ Beitrag von Christian Weymayr
Ich habe lange in Basel gewohnt. Bei Basler Fasnachtsveranstaltungen, bei denen es auch Bänkelgesänge gibt, die aktuelles politisches und gesellschaftliches Leben kommentieren, taucht regelmäßig eine Truppe auf, die als „Strickmammselln“ verkleidet sind, also alte Stricktanten. Der Reim, mit dem sie alles kommentieren heisst: „inesteche, umeschloo, duureziehe und abeloo“, also übersetzt: „hineinstechen, herumwickeln, durchziehen und herunterlassen“; der klassische Vierschritt des Strickens also (ich weiss das, denn ich habe einmal als Student in einer ganzen Wochenendveranstaltung einen Pullover gestrickt). Das ist mir jetzt wieder eingefallen, als ich auf den Text zur „Szientabilität“ von Christian Weymayr aufmerksam geworden bin, der vor kurzem publiziert wurde [1]. Wir, Prof. Klaus Fischer aus Trier, und ich haben ihn in einem Leserbrief kommentiert und kritisiert [2]; auch andere, wie Klaus Linde, haben in der Leserbrief-Sektion kritische Kommentare dazu abgegeben.
„hineinstechen, herumwickeln, durchziehen und herunterlassen“
Hier ein paar grundlegende Gedanken, die vielleicht auch über die spezielle Diskussion hinaus interessant sein könnten:
Weymayr führt seine Idee der „Szientabilität“ im Kontext seiner Homöopathie-Kritik ein, die er letztes Jahr in seinem Buch „Die Homöopathie-Lüge“ vorgestellt hat. Der Grundgedanke scheint bestechend einfach zu sein: man solle nur das in klinischen Studien untersuchen dürfen, das allgemein akzeptierten wissenschaftlichen Grundprinzipien nicht zuwiderläuft. Das Szientabilitätsprinzip ist im übrigen speziell für die Homöopathie entwickelt, eine lex homoeopathica sozusagen, um keine Ressourcenverschleuderung zu betreiben und um keine nutzlosen, weil apriori fruchtlosen Diskussionen zu erzeugen [3]. Ich gehe jetzt nicht auf alle argumentativen Klippen ein; man kann unsere ausführlichere Argumentation im Leserbrief nachlesen. Aber ein Gedanke ist mir wichtig, weil er eben sehr post-karnevalistisch ist oder sich fasnächtlich für die Basler Strickmammsellen eignen würde:
…dass sich sichere Erkenntnisse wie die Wolle zu einem Pullover immer fortstricken lassen, so dass am Ende der Zeiten ein gigantischer kosmischer Pullover herauskommt…
Der Gedanke der Szientabilität setzt zweierlei voraus: Erstens: dass immer und zu jeder Zeit einwandfrei und zweifelsfrei klar ist, was „sichere Erkenntnisse“ sind. Und zweitens, implizit: dass sich sichere Erkenntnisse wie die Wolle zu einem Pullover immer fortstricken lassen, so dass am Ende der Zeiten ein gigantischer kosmischer Pullover herauskommt, in den alle Welt, bzw. alles was Wahrheitsgehalt und Sachgehalt hat, hineinpasst. Alles andere bleibt draussen und muss sich im Schatten der kosmischen Hintergrundstrahlung von ein paar Kelvin den finalen Schnupfen holen. Das ist nun wirklich eine fasnachtsreife Vorstellung, oder? Allein die Phantasie, dass es so etwas geben könne wie „sichere Erkenntnisse“ und noch dazu solche, die sich nicht verändern werden, halte ich in ihrer Naivität für rührend. Nur ein ganz freier Geist, unberührt und unbeschadet von aller historischen Kenntnis und von jeglichem historischen Bewusstsein kann sich wirklich solche Vorstellungen erlauben.
Allein die Phantasie, dass es so etwas geben könne wie „sichere Erkenntnisse“ halte ich in ihrer Naivität für rührend.
Muss man noch immer, nach mehr als einem halben Jahrhundert Reflexion, an Thomas Kuhn erinnern und daran, wie oft schon das, was als sicher galt, verworfen wurde? Wie häufig nicht nur Details, sondern ganze Grundfesten des Denkens über den Haufen geworfen wurden? Klar, das passiert nicht alle 20 Jahre, aber alle 100, 150, oder 200 Jahre durchaus. Und dann ist das, was einst „sicher“ war, nicht nur unsicher, sondern falsch. Und das, was dereinst „Hirngespinste“ waren, wird zur künftigen Wissenschaft von morgen. Klar, auf jeden Galileo kommen mindestens 100, wenn nicht mehr Spinner, und vielleicht bin ich einer von denen. Aber eines ist sicher: „Sichere Erkenntnisse“ ist eine Vokabelnkombination, die im Rahmen der Wissenschaft nicht fallen sollte, weil sie nicht nur falsch, sondern töricht ist.
…das, was dereinst „Hirngespinste“ waren, wird zur künftigen Wissenschaft von morgen…
Ich bin durchaus geneigt, gewissen Teildomänen unserer Erkenntnis Gültigkeit zuzusprechen. Das ist der Grund, weswegen ich im Zug oder Flugzeug sitze und entspannt bin dabei: weil ich denke, dass Bernoulli mit seinen Gesetzen Wahrheiten erkannt hat. Aber, und das ist das implizite und von Weymayr nicht erkannte Problem: daraus lässt sich nicht ableiten, was nicht sein kann. Es ist durchaus denkbar, dass die Bernoullischen Gesetze ewige Gültigkeit haben werden, und dennoch irgendjemand irgendwann eine Form der „Ätherbeherrschung“, wie es Tesla ausdrückte, erfinden wird, die die Bernouilleschen Gesetze nicht widerlegt, sondern einfach überflüssig macht oder einen zweiten Fortbewegungskanal daneben etabliert. Tesla hat behauptet man könne den Äther ingenieurtechnisch beherrschen und daraus Fortbewegung generieren und hat das offenbar auch mindestens hin und wieder zustande gebracht, sagen die Biographen [4]. Zu sagen, dass es das aus prinzipiellen Erwägungen heraus nicht geben kann, ist wissenschafts- und fortschrittsfeindlich. Und sage jetzt keiner, der „Äther“, also eine alles verbindende, nicht sichtbare und dennoch wirksame Größe, sei als wissenschaftliches Konzept überholt oder gar widerlegt. Beides ist falsch. Er ist als Begriff aufgegeben worden. Womöglich erlebt er irgendwann eine Renaissance, wer weiß es?
Und nur weil wir uns nicht vorstellen können, ob und wie homöopathische Kügelchen wirken oder nicht wirken könnten, zu behaupten, das kann es nicht geben, weil es unserem momentanen Verständnis der Natur widerspricht, ist nicht viel besser. Es ist ganz leicht ein Zustand denkbar, in dem unser momentanes Verständnis der Natur zusammen mit einem neuen, noch zu findenden gemeinsam existiert und beide Arten des Verständnisses Teilbereiche richtig beschreiben können. Und beide machen unterschiedliche, vielleicht sogar widerspüchliche Annahmen. Im einen Falle können wir uns nur Wirkung aufgrund von Kontakt von Molekülen vorstellen, im anderen vielleicht Wirkung aufgrund von anderen Prozessen.
Daraus lässt sich nicht ableiten, was nicht sein kann…
Das implizite Problem ist: Wissenschaft kann – und will – nie beweisen, was nicht der Fall ist. [5] Denn um das tun zu können, müsste man eine potenziell unendliche Reihe von Methoden auf potenziell unendliche Domänen, ja auf das ganze – vermutlich unendliche – Universum anwenden.
…also ist jeder Satz, der die Struktur hat: „Die Wissenschaft hat bewiesen, dass x NICHT der Fall ist (oder: sein kann)“, apriori falsch.
Und dies ist aus nachvollziehbaren Gründen nicht möglich. Also ist jeder Satz, der die Struktur hat: „Die Wissenschaft hat bewiesen, dass x NICHT der Fall ist (oder: sein kann)“, apriori falsch. Weder hat die Wissenschaft bewiesen, dass die Homöopathie nicht funktionieren kann oder nicht funktioniert. Noch hat sie bewiesen, dass es keine Engel gibt. Noch hat sie bewiesen, dass man sich nicht schneller als Licht bewegen kann, noch hat sie bewiesen, dass es keine geistigen Prinzipien oder sonstwas nicht gibt. Das kann sie gar nicht. All diese Aussagen sind Aussagen, die auf dem Horizont einer bestimmten, momentan gültigen Form von Wissenschaft gemacht werden und haben insofern allenfalls kontingente, das heisst zeitlich und räumlich begrenzte Gültigkeit und es sind immer Domänen denkbar, innerhalb derer diese Gültigkeit beendet ist. Auch kann man pragmatisch entscheiden: wir haben jetzt in eine Richtung genug gesucht; jetzt reicht’s und wir gehen davon aus, dass weiteres Suchen nicht sinnvoll ist. Aber das ist etwas anderes als zu behaupten: die Wissenschaft hat bewiesen, dass in dieser Richtung nichts existiert. Und aus einem möglicherweise sinnvollen pragmatischen Konsens eine Aussage wissenschaftlicher Sicherheit und Erkenntnis zu machen ist mangelnder denkerischer Disziplin geschuldet.
Solche Aussagen gehören in meinen Augen zu dem was ich Fasnachtswissenschaft nennen würde: „inesteche, umeschloo, duureziehe und abeloo“. Tauglich für ein Schmunzeln, tauglich auch zum Stricken eines guten Pullovers, aber nicht als Modell für die Welt und schon gar nicht als Rat für weitere Forschung.
Lesen Sie dazu auch: „Um unliebsame Phänomene wie die Homöopathie von vornherein vom wissenschaftlichen Diskurs auszuschließen, prägen die Autoren den Begriff der ‚Szientabilität‘ (in etwa zu übersetzen mit „Wissenschaftsfähigkeit“). Gemeint ist hiermit die Vereinbarkeit eines Phänomens mit den herrschenden paradigmatischen Grundüberzeugungen der scientific community. Ist diese nicht gegeben, soll es einfach ausgeblendet und nicht weiter untersucht werden. Ein solches hermetisch abgeschlossenes Weltbild hat mit Wissenschaft nichts zu tun.“ (Jens Behnke)
Quellen
[1] Weymayr, C. (2013). Scientabilität – ein Konzept zum Umgang der EbM mit homöopathischen Arzneimitteln. Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen, 107, 606-610.
[2] Walach, H., & Fischer, K. (2014). Leserbrief zu Christian Weymayr: „Scientabilität – ein Konzept zum Umgang der EbM mit homöopathischen Arzneimitteln“. Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh.wesen (ZEFQ) (2013) 107, 606-610. Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen, 108(1), 80.e81-e83.
[3] im Original: Szientabilität meint „…dass Verfahren nicht in klinischen Studien getestet werden sollen, wenn sie sicheren Erkenntnissen widersprechen“ p2
„Medizinische Maßnahmen sollen nur dann in klinischen Studien untersucht werden, wenn sie sicheren Erkenntnissen nicht widersprechen.“ p 3
[4] Carlson, W. B. (2013). Tesla: Inventor of the Electrical Age. Princeton: Princeton University Press.
[5] Dieser Irrtum, dem viele aufsitzen, Wissenschaft würde widerlegen, kommt daher, dass eine bestimmte Form des statistischen Schließens nur das Verwerfen einer Hypothese zulässt, also einen negativen Schluß. Diese Form des statistischen Hypothesentestens hat sich in manchen Wissenschaftsbereichen mit der Popperschen Wissenschaftstheorie verbrüdert, die bekanntlich davon ausgeht, man solle kühne Hypothesen konstruieren und sie dann verwerfen. Dass Wissenschaft so faktisch nicht funktioniert, ist spätestens seit Hilary Putnams Analyse allgemeines Gedankengut der Wissenschaftsforschergemeinde, aber fast spurlos an praktisch tätigen Forschern vorbeigegangen, die immer noch diesen Fehler machen. Siehe Putnam, H. (1975). The corroboration of theories. In Mathematics, Matter and Method. Philosophical Papers (Vol. Vol. 1, pp. 250-269). Cambridge: Cambridge University Press. Ich habe diese Gedanken etwas ausführlicher in meinem Wissenschaftstheorie-Buch dargestellt, siehe Walach, H. (2013, orig. 2005). Psychologie: Wissenschaftstheorie, philosophische Grundlagen und Geschichte (3. überarb. Aufl. ed.). Stuttgart: Kohlhammer. Weil eine bestimmte Form der Statistik so funktioniert, so denkt man dann, sei dies das generelle Vorgehen der Wissenschaft. Dies wiederum ist ein Fehlschluß.