Meine letzten Wünsche an Deutschland

Ich habe schon einmal unter diesem Titel Abschied genommen von Deutschland. Das war 2005, in meiner Abschiedsvorlesung aus Freiburg. Damals ging ich nach England, weil die deutsche Hochschulgesetzgebung es mir verunmöglichte, mit meinen Drittmitteln, die ich ausreichend besaß, meine Stelle als außerplanmäßiger Professor am Uniklinikum in Freiburg weiter zu finanzieren. Ich fand England sehr sympathisch. Die Kollegen waren freundlich und kollegial. Es herrschte fast eine verschwörerische Gemeinschaftlichkeit. Warum, das habe ich dann bald gemerkt und das hat mich 5 Jahre später wieder aus England vertrieben: Das dortige System teilt sich in Akademiker – also die, die Wertschöpfung betreiben, indem sie unterrichten und forschen und damit das Geld verdienen, das die Universität am Leben erhält – und Administratoren und Manager – die den Akademikern sagen, wo es lang geht. Da haben es deutsche Akademiker besser. Mindestens in der Theorie sind sie in ihrer Forschung und Lehre frei. Außerdem ist das englische System extrem hierarchisch gestaffelt und spiegelt die englische Klassengesellschaft: Es gibt die Universitäten an der Spitze, Oxford, Cambridge, Imperial, Queen Mary, University College, eben die richtig guten Universitäten der Russell Group, und eine Heerschar in den hinteren Rängen. Die Top-Universitäten nehmen zu knapp 50 % vor allem die besten Schüler aus den etwa 7 % englischen Privatschulen auf (mehr dürfen sie von diesen nicht aufnehmen, sonst verlieren sie ihre Zuwendungen vom Staat; ich habe über diese Zusammenhänge an anderer Stelle reflektiert [1, 2]). Die Schüler dieser Privatschulen sind bis auf sehr wenige Ausnahmen solche aus den reichen Häusern. Denn die Schulgebühr für solche Schulen kostet mindestens ein Jahresgehalt eines Durchschnittsverdieners. (Als ich in Northampton war, lag das jährliche Durchschnittseinkommen in der Region bei 27.000 Pfund; die lokale Privatschule hätte im Jahr 25.000 Pfund gekostet und sie war noch eine der billigsten im Lande.) Auf diese Weise destilliert sich das englische Klassensystem nach oben. In den guten Universitäten des Landes trifft sich die Oberschicht. So wird das gesellschaftliche System festgezimmert.

Als ich das damals verstanden habe, entschloss ich mich, wenn es eine Möglichkeit gäbe, wieder nach Deutschland zurückzukehren. Dort habe ich ein sehr egalitäres Universitätssystem erlebt und ein durchlässiges Bildungssystem, dessen Qualität nicht vom Einkommen der Eltern abhing. Ich konnte als Kind einfacher Eltern mit bäuerlichem Hintergrund und ohne Nachhilfe von Zuhause in einer guten Schule mein Abitur machen und ohne Gebühren studieren. Diesem System wollte ich wieder etwas von dem zurückgeben, was ich selber einmal erhalten habe.

Als sich dann die Möglichkeit ergab, mich auf eine Stiftungsprofessur an der Viadrina in Frankfurt an der Oder zu bewerben, tat ich das und erhielt sie. Was ich damals nicht vorhersah, war der fast heimtückisch zu nennende Widerstand gegenüber dem Studiengang – eine Weiterbildung für Ärzte in Komplementärmedizin -, der von der lokalen brandenburgischen Politik ausging und sich dann über einige Erregungsschleifen in die Presse und von dort in die Kollegenschaft fortpflanzte. Ich habe diese Geschichte gesondert beschrieben und will das hier nicht weiter vertiefen [3].

Im Jahr 2016 wurde unser Studiengang von der Fakultät geschlossen, wodurch auch meine Tätigkeit hinfällig wurde und meine Stiftungsprofessur endete. Und so fand ich mich mit 59 als arbeitsloser Akademiker wieder und begann mein Berufsleben neu zu sortieren. Diesmal als freiberuflicher Wissenschaftler, der ich immer noch bin. In der Corona-Krise habe ich das zu schätzen gelernt. Denn die positive Kehrseite der freiberuflichen Unsicherheit ist die Freiheit.

Nun wird mir die politische Situation in Deutschland wieder einmal zu eng und ich gehe zum zweiten Mal, vermutlich zum letzten Mal, ins Ausland. Und formuliere meine vielleicht allerletzten „letzten Wünsche“ für Deutschland. Ich bin zurückgekehrt in die Schweiz, nach Basel, wo ich von 1985 bis 2005 gewohnt habe, nachdem ich dort nach meinem Studium meinen ersten Job, dort promoviert hatte und dann aufgrund meiner familiären Situation geblieben und zum Pendler nach Deutschland geworden bin.

„Meine letzten Wünsche“ an Deutschland ist ein Titel, den ich meinem philosophisch-psychologischen Vorbild Franz Brentano geklaut habe. Der verließ 1895 Wien mit einem Eklat und formulierte das, was ihm widerfahren ist, in einem kleinen Text „Meine letzten Wünsche für Österreich“ [4]. Er fühlte sich – und war auch – betrogen um seinen Lehrstuhl. Den hatte er aufgegeben, um seine Liebe, eine jüdische Bankierstochter, heiraten zu können. Das hätte er im katholischen Habsburgerreich als ehemaliger, aus der Kirche ausgetretener Priester nicht tun können, wenn er gleichzeitig als Professor installiert sei, ließ man ihn wissen. Und versprach ihm, er könne den Lehrstuhl später wiederhaben, wenn er zurücktreten würde, im Ausland heiraten und sich dann wieder bewerben würde. So ließ er die Professur fahren, ging mit seiner Braut nach Sachsen, wo er als Konfessions- und Staatenloser heiraten konnte, und kam dann zurück, um seinen Lehrstuhl wieder in Empfang zu nehmen. Er unterzog sich auch zweimal einem neuen Bewerbungsverfahren, in dem ihn die Fakultät zweimal – unico loco, also als einzigen Bewerber – auf Platz eins setzte, konkurrenzlos sozusagen. Aber das Ministerium verweigerte ihm die Berufung und brach das ihm gegebene Versprechen. Brentano hangelte sich als Privatdozent durch. Als dann seine Frau starb, waren ihm offenbar die Demütigungen genug und er verließ Wien und Österreich, nicht ohne zuletzt seine Geschichte in besagtem Text niederzulegen.

Mir geht es auch ein bisschen so wie Brentano. Ich bin ent-täuscht. Das ist aber gut so. Denn das Wort zeigt, dass man eine Täuschung hinter sich gelassen hat und von einer Illusion befreit ist. Die Täuschung, der Brentano aufgesessen ist, war der Glaube an Ehrlichkeit und Gerechtigkeit in der kaiserlich-habsburgischen Ministerialbürokratie Wiens seiner Tage, die Hoffnung, dass Versprechen bindend und Worte verlässlich sind.

Die Täuschung, die ich hinter mir gelassen habe, ist der Glaube an ein funktionierendes demokratisches System, das nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurde und zum Wohle der Bürger funktioniert. Die Corona-Krise hat mich eines Besseren belehrt. Die Tatsache, dass unsere Parlamentarier bei der Frage nach der Impfpflicht nur mit knapper Mehrheit an einem Rückfall in faschistoide Zeiten vorbeigeschlittert sind und nun bei der Zustimmung zu den neuen WHO-Pandemieverträgen (bzw. dem positiven Verhandlungsauftrag) im Grunde die deutsche Souveränität in Gesundheitsfragen einem völlig nebulösen und demokratisch niemandem wirklich rechenschaftspflichtigen Gremium abgegeben haben, verheißt für mich nichts Gutes für die Zukunft.

Die Einseitigkeit und Engführungen der politischen Diskurse in den Leit- und öffentlich-rechtlichen Medien, egal ob es um Gesundheit, Corona oder den Ukraine-Krieg geht, scheint mir politisch extrem gefährlich zu sein und ist eigentlich ein Rezept für die nächste Katastrophe. Die sprachliche Verunglimpfung und sachliche Ausgrenzung von prominenten Kritikern – nehmen wir als Beispiel Ulrike Guérot -, die sich getrauen, solche Sachverhalte beim Namen zu nennen, ist ein Zeichen für den Zusammenbruch demokratischer Diskurskultur.

Die Medien haben sich im Laufe der Zeit von der vierten zur ersten Kraft im Lande nach vorne geboxt. Sie haben zwar einen formulierten Auftrag, aber es gibt keinerlei nachvollziehbare Kriterien für ihr Wirken und Rechenschaftspflicht gibt es schon gar nicht. Wer sich gegen Fehlberichterstattung oder Rufschädigung in den Medien wehren will, braucht eine gute Rechtsschutzversicherung, einen noch besseren Anwalt und viel Geld. Und wird dann nach ein paar Verfahren von seiner Versicherung gekündigt. Was soll man dazu sagen, wenn es sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk ARD erlauben kann, einen Pferdesportreporter als Fachmann für einen Faktencheck zu holen, der dann pflichtschuldigst Forschung, von der er nicht die Bohne versteht, zerschießt, wie es mir mit unserer Kindermaskenstudie ergangen ist? Nur nochmals zur Sicherheit: die Tatsache, dass diese Studie in Langform unangefochten neu publiziert wurde, zeigt, wer recht hatte; das war nicht der ARD-Faktenchecker [5, 6].

Die erste Macht im Lande sind mittlerweile, mit Verlaub, meine Damen und Herren von SZ, FAZ, ARD und ZDF, unsere Medien, die es verlernt haben, wirklich kritisch zu sein und zu Hofberichterstattern verkommen sind. Was mediale Kultur seit 1848 bedeutet hat: Kontrolle der Mächtigen, Kritik gegenüber dem anscheinend Selbstverständlichen, den Wehr- und Machtlosen eine Stimme geben, diese mediale Kultur ist verschwunden in dem woken Einerlei einer schulterklopfenden Selbstversicherung, zu den Klugen, Aufgeklärten und Besserwissenden zu gehören. Diese Medien treiben die Politik vor sich her. Die Politik treibt die Justiz vor sich her (denn Justizbeamte wie Staatsanwälte und Richter sind mit ihren Karrierewünschen abhängig vom Dienstherren, dem Justizministerium). Und alle miteinander treiben die Bürger vor sich her. Dorthin, wo sie wollen, dass die Bürger hingehen. Genauer gesagt, wo sie denken, dass die Bürger hingehen sollen, damit es ihnen gut geht. Diese unerträgliche Besserwisserei der Gutmenschen, der vermeintlich Liberalen und der anscheinend Aufgeklärten, sie ist der Stoff, aus dem das rissige Sprungtuch des Untergangs für die gewebt ist, die aus dem brennenden Haus Zuflucht suchen.

Kritische Medienkultur

Der allererste meiner letzten Wünsche für Deutschland ist also eine Rückkehr zur Medienkultur der revolutionären Zeit und der Anfangszeit unserer Nachkriegsrepublik, zu Multiplizität, vielfältiger Meinung und Diskurskultur. Wie das geht, müssen sich die Medienfachleute überlegen. In meiner Interviewstudie mit 40 Experten zur Coronakrise sagten mir die Medienexperten, die ich interviewt habe, unisono, der Sache nach: Während die Zeitungen früher vor allem von Inseraten der Wirtschaft lebten, sind sie nun abhängig von Unterstützung durch die Politik und von der Wohlmeinung des Publikums. Sie reden also den Politikern nach dem Maul und tun und berichten das, was sie glauben, dass das Publikum hören will. Die Wahrheit gehört in den seltensten Fällen zu diesen Kommoditäten. Vermutlich müsste man als Erstes den öffentlich-rechtlichen Medienbereich neu organisieren, die Rundfunkgebühren abschaffen, die im Grunde eine Steuer auf die Verbreitung der Staatsmeinung sind, und den Leuten erlauben, dieses Geld für Medienkanäle und -portale auszugeben, die sie wirklich nutzen und von denen sie sich gut informiert fühlen. Vermutlich müsste man Staatsförderung der Medien und Förderung durch große Stiftungen und NGOs abschaffen, die ja vor allem ihre politische Meinung transportieren wollen. Andernfalls müsste man solche Förderung sehr viel transparenter gestalten, damit Nutzer wissen, wessen Sprachrohr sie hören.

Eine weitere Illusion, die ich hinter mir gelassen habe, ist die naive Meinung, „der Gesetzgeber“, also wir, die Parlamentarier und damit indirekt das Volk, bestimme, welche Politik gemacht werde. Das mag auf der Bühne Berlins so erscheinen. Aber mich erinnert dieses Spiel immer mehr an die Augsburger Puppenkiste, mit der ich als Augsburger groß geworden bin. Das durchschaut man auch als Kind, und findet es trotzdem toll: Da sitzen, ohne dass man sie sieht, oben im Theaterboden Leute, die die Puppen an Fäden so gekonnt laufen, sprechen, rennen, hüpfen, tanzen, sogar schlafen und küssen lassen, dass man als Zuschauer gebannt ist (obwohl man weiß, es sind Puppen). Und die Stimmen der Sprecher sind klarerweise die Worte, die die Puppen sagen. Wenn man etwas reflektiert, weiß man natürlich: Die Puppen können nicht sprechen, es müssen andere sein. Und man weiß, die Puppen können nicht laufen, es sind die Puppenspieler, die den Eindruck erwecken. Aber nichts ist im Moment des Puppentheaterspiels wirklicher als Jim Knopf oder Urmel, wie sie sich freuen, leiden und weinen.

So ähnlich kommt mir unser politisches Theater vor. Es sind, nicht immer, aber oft, komplexe Einflussnahmeprozesse, die das Abstimmungsverhalten unserer Parlamentarier steuern. Die Coronakrise war ein Paradebeispiel für die Selbstentmachtung des Parlaments und der Wiedereinführung einer Art Reichsermächtigungsgesetz in Form des Infektionsschutzgesetzes, das der Exekutive fast unbeschränkte Eingriffsmöglichkeit in die bürgerlichen Rechte gewährt. Und wenn wir aus der Geschichte, auch der Nachkriegsgeschichte, eines gelernt haben sollten, dann das: Rechte, die einmal genommen, einbehalten oder vorbehaltlich gewährt werden, kommen nicht ohne weiteres wieder zurück.

Keine Expertokratie

Es sind im Grunde Eliten, die über informelle Kanäle Einfluss ausüben, egal ob es sich jetzt um mächtige NGOs, Stiftungen, Think-Tanks, Plattformen wie das WEF oder andere handelt: Die Komplexität der postmodernen Welt führt dazu, dass wir auf eine Expertokratie zusteuern. Man überlässt das Entscheiden, das Sagen wo’s lang geht, den Experten. Der politische Begriff dafür ist Oligarchie. Wenige haben das Sagen und müssen sich verschlungene Wege suchen, wie sie im Hintergrund ihre Ansage so vorbringen, dass sie den Anschein demokratischer Prozesse nicht verletzt. Fassadendemokratie nennen das einige. Und je tiefer ich blicke, desto richtiger scheint mir diese Bezeichnung.

Auch hier war die Coronakrise ein Paradebeispiel: Nicht mehr demokratisch gewählte Vertreter des Volkes haben bestimmt, was zu tun ist, sondern Experten, ausgerufen von den Medien oder in einem undurchsichtigen Prozess berufen von der Exekutive nach medialer Vorgabe. Das, was hier vorgeführt wurde, wird weiter gehen. Hat sich doch bewährt, oder nicht?

Nein, dieser Prozess muss beendet oder sehr transparent gemacht werden. Denn wenn wir das nicht tun, dann wird unser Gemeinwesen zum Selbstbedienungsladen für völlig undurchsichtige Akteure. Jeder, der genug Geld und Einfluss hat, kann dann über die Medienmaschinerie seine Expertenhampelmänner in Position bringen, die dann die Politik mehr oder weniger kritiklos als Experten in die entsprechenden Gremien beruft und fertig ist das Marionettentheater der politischen Bühne.

Mein zweiter „letzter Wunsch“ wäre, dass das abgeschafft und geändert wird. Wie lässt sich das ändern? Ich glaube, das geht nur über eine Kombination von Prozessen und Kontrollmechanismen.

Zum einen müssen medial präsente und echte Experten entkoppelt werden. Es sollten, wie bei Berufungsverfahren auch, sachliche und nicht politische Kriterien gelten. Nicht wer der Regierung nach dem Mund redet, sondern wer am meisten Expertise in einem Feld hat, gehört in einen Expertenrat. Dafür gäbe es Kriterien: Art und Anzahl der Publikationen in wissenschaftlichen Zeitschriften, Rang in einer neutralen Zitationsdatenbank, die die Anzahl der Fremdzitate eines Wissenschaftlers weltweit zählt, z.B. die von John Ioannidis [7] (in der z.B. Prof. Drosten einen niedrigeren Rang einnimmt als mancher andere, sogar als ich, der ich nun wahrlich nicht zu den Exponenten der Schulwissenschaft gehöre). Vielleicht müsste es einen Expertensenat geben: Leute, die selber keine Position in einem Expertenrat belegen wollen und dürfen, aber helfen, die richtigen Experten zu suchen. So etwas sollte nicht nach politischem Stallgeruch geschehen, sondern nach echter Expertise.

Zum anderen müssten vielleicht an Parlamentarier noch mehr inhaltliche Kompetenzkriterien herangetragen werden als bisher: Wer von einer Partei als „Gesundheitsexperte“ oder „Verkehrsexperte“ benannt wird, sollte auch einer sein. Ansonsten kann es sein, dass ein Kinderbuchautor Wirtschaftsminister wird und ein Pharmalobbyist Gesundheitsminister. Nicht die politische Vermittelbarkeit und die mediale Vorzeigbarkeit, sondern die sachliche Expertise sollte den Ausschlag geben.

Vielleicht müssten in einzelnen Sachfragen auch basisdemokratische Elemente berücksichtigt werden, vor allem, wo politische Entscheidungen die unmittelbare Lebenswirklichkeit von Menschen berühren.

Verbindliche Ethik

Eine letzte Illusion, die ich während der letzten Jahre verloren habe, ist die Meinung, dass Politiker das Wohl der Bürger im Auge haben. Das mögen sie behaupten, und manche haben das vielleicht auch. Aber bei den wirklich mächtigen Politikern habe ich meine Zweifel (bekommen). Was auch immer sie vor Augen haben, dürfte eher das eigene Fortkommen, die Karriere, die Macht, ein Platz im Geschichtsbuch sein.

Mein Wunsch wäre, dass all diese Motive, die durchaus auch ihren Raum haben, in den Hintergrund treten bei denen, die Verantwortung tragen.

Wie ist das zu erreichen? Es würde eigentlich nur funktionieren über eine herausragende persönliche Ethik. Eine Ethik, die rückgekoppelt ist an eine universelle Ethik. Nicht an ein vermeintlich besseres Leben in einer besseren Zukunft oder wie auch immer die postmodernen, oft transhumanistischen und nicht selten platt-materialistischen Konzeptionen aussehen. Eine solche Ethik müsste gekoppelt sein an das Wissen, dass das Gute in sich wertvoll und handlungsleitend sein muss. Dass es komplex sein kann, sich darauf zu verständigen, was das Gute ist, versteht sich. Dazu dient der Diskurs. Und daher darf es kein Gerede von Alternativlosigkeit und Sachzwängen und derlei Dingen geben.

Der nächste „letzte Wunsch“ wäre also eine Rückbesinnung auf Ethik. Nicht auf die vermeintlichen „westlichen Werte“, in deren Namen gebombt und getötet wurde. In deren Namen eiskalte Macht- und Geopolitik betrieben wurde und wird. Sondern auf richtige Ethik, wie sie seit alters her in den grundlegenden Gesetzestexten aller Religionen und aller reflektierter ethischer Theorie zusammengefasst sind.

Das bringt mich zum abschließenden letzten Wunsch. Was mir zunehmend in den letzten Jahren auf die Nerven gegangen ist, war eine deutlich spürbare Intoleranz gegenüber abweichenden Meinungen, gegenüber denen, die anscheinend die „falsche“ politische Meinung, eine andere Ideologie des Lebens oder eine andere Weltanschauung haben. Ich glaube, das kommt daher, dass ein kultureller Konsens, nämlich der Primat einer christlich basierten Weltauffassung, seit dem 2. Weltkrieg, vielleicht schon früher, allmählich zerbrochen ist und nichts Vergleichbares bereitsteht, das Vakuum zu füllen. Eine relativ unreflektierte Form einer „wissenschaftlichen Weltanschauung“, eines naturalistischen Materialismus scheint mir klammheimlich Einzug gehalten zu haben, der sich wiederum mit einigen anderen Ideologien verbrüdert hat. Mit links-grünen Positionen, mit libertären Auffassungen im Bereich der Beziehungs- und Familiengestaltung, usw. Daraus wird dann ein Konglomerat dessen destilliert, was man unter „Modernen“ als gut, richtig, fortschrittlich und menschlich hilfreich ansieht. Und so entsteht das, was man gerne als „Wokismus“ bezeichnet, eine bestimmte Form politischer Wachheit, die meint, sie wisse, was allgemein gut und richtig sei und dies auch lautstark durchsetzt. Dann werden Dozenten mit der vermeintlich „falschen“ politischen Meinung nicht nur, wie früher, im Diskurs scharf hergenommen, sondern gar nicht mehr angehört, ausgeladen, gecancelt. Denn man weiß ja im Vorhinein, dass sie nur reaktionäre Inhalte befördern. Man weiß es aus oberflächlichen Social-Media-Kanälen, schlecht recherchierten Wikipedia-Artikeln und überhaupt. Dann tut man alles, um sein Weltbild „rein“ zu halten. Denn dazugehören ist alles.

Widerspruchskultur

Ich wünsche dem Deutschland der Zukunft mehr Widerspruchskultur und den Mut, sich gegensätzlichen Meinungen auszusetzen. Dazu gehört auch der Abschied vom schwarz-weißen entweder-oder-Denken. Die Wirklichkeit ist bunt, oder grau, aber selten schwarz oder weiß. Ich habe diese Tendenz in den letzten Jahren vor allem bei jungen Menschen beobachtet. Sie ist verständlich. Man will Ordnung haben, wissen, wo’s lang geht, wer zu den Guten und zu den Schlechten gehört. Diese Tendenz ist um so stärker, je weniger gefestigt man selber in einer Weltanschauung oder Religion ist. Toleranz ist der Luxus der Sicheren. Unsichere müssen ausgrenzen. Und diese Verunsicherung, die einem eine gegensätzliche Meinung beschert, die man sich anhört, ist unbequem. Daher wünsche ich, vor allem den Jungen, den Mut, sich aus der bequemen Komfortzone heraus zu begeben und sich genau den Meinungen und Informationen auszusetzen, die ihnen nicht in den Kram passen.

Multipolarität

Ich habe in der letzten Zeit vor allem politische und historische Bücher gelesen. Und eine meiner Einsichten war: Wir haben in Deutschland seit dem Krieg, aus Dankbarkeit oder Pflicht, die transatlantische Freundschaft mit den USA hochgehalten. Ich auch. Ich habe gute Freunde dort, habe die meiste Förderung während meines aktiven Forscherlebens der Großzügigkeit einer amerikanischen Stiftung zu verdanken, und ich schätze die Toleranz, die Freundlichkeit, die Unkompliziertheit des Landes und seiner Bewohner sehr. Aber wir sollten uns keine Illusionen machen. Auch dort ist die Politik und die Machtelite von der Bevölkerung abgeschieden. Sie hat vor allem ein Ziel: die Hegemonie. Und zur Hegemonie gehört das Kleinhalten von Konkurrenten. Wenn man dem ehemaligen Präsidentenberater Brzezinski trauen kann, dann ist einer der wesentlichen Konkurrenten einer Hegemonialmacht USA nicht so sehr Russland und China – diese sicher auch – sondern ein einiges und in sich verbundenes und sicheres Europa [8]. Denn es hat mehr Bewohner, mehr Wirtschaftsmacht und genauso viel Innovationskraft wie die USA. Daher lese ich das, was im Moment passiert, der unselige Krieg in der Ukraine, als einen Versuch Europa zu schwächen und in Europa vor allem Deutschland.

Der Krieg in der Ukraine ist, neben vielem anderen auch, vor allem ein Stellvertreterkrieg. Dazu eine kleine Vignette aus meinem eigenen Erfahrungsschatz. Ich bin im Beirat einer kleinen wissenschaftlichen Vereinigung, der Society of Scientific Exploration. Das ist eine Gruppe, in der sich vor allem Anomalistikforscher zusammengefunden haben. Die derzeitige Präsidentin ist eine Medizinerin. Wir treffen uns in ca. 4-wöchigen Abständen zu Video-Konferenzen. Ich bin der einzige Europäer. Vor einigen Wochen wurde besprochen, ob die jährliche Konferenz, die in den USA stattfindet, rein online oder wieder einmal mit Präsenz abgehalten werden sollte. Die Präsidentin eröffnete die Diskussion mit den Worten, sinngemäß: Es sei nicht klar, ob genügend Leute kämen, wenn man die Konferenz in Präsenz abhalten würde, jetzt, da wir (also die USA) mitten in einem Stellvertreterkrieg sind. Da war es also, das Wort. Selbst eine unpolitische Medizinerin in den USA nimmt das Argument wie selbstverständlich in den Mund. Hier wäre es ein politischer Affront, diesen Krieg als etwas anderes als Befreiungskampf zu deuten.

Daher ist mein allerletzter Wunsch, dass die hiesigen Eliten zu dieser Realität erwachen mögen. Ihr bester Freund ist nicht notwendigerweise dort, wo sie ihn zu finden meinen. Und wenn die politischen Eliten nicht aufhören, den Menschen, die diese Realität genau sehen und mit ihrem Wahlverhalten ein Signal geben, besserwisserisch Demokratieferne oder Rechtsextremismus vorzuwerfen, dann wird genau jene Uneinigkeit vertieft, die das geostrategische Ziel des Hegemons befördert: die Schwächung eines selbstständigen Europas, indem jede Nation ihre Eigenheit behalten und dennoch gemeinsam wirken kann.

Brzezinski sah es sehr klar: Amerika ist die einzige und vermutlich auch historisch letzte globale Supermacht, die diesen Status so lange als möglich behalten will. In seinen eigenen Worten:

„…global politics are bound to become increasingly uncongenial to the concentration of hegemonic power in the hands of a single state. Hence, America is not only the first, as well as the only, truly global superpower, but it is also likely to be the very last…. In fact, the window of historical opportunity for America’s constructive exploitation of its global power could prove to be relatively brief… A genuinely populist democracy has never before attained international supremacy. …. Democratization is inimical to imperial mobilization.“ [8], S. 209f.

Anders ausgedrückt: Nach dem Kalten Krieg haben sich die USA als einzige globale Supermacht herausgebildet und sie werden versuchen, diesen Status so lange wie irgend möglich zu erhalten. Auch wenn Europa in diesem Schachspiel eine wichtige Position als Partner und Verbündeter hat und Deutschland den USA als wichtigstes Land in Europa gilt, so doch immer nur als Junior-Partner. Die historische Alternative, die sich abzeichnet, nämlich eine multipolare Welt mit unterschiedlichen Akteuren und Einflusszonen, die sich gegenseitig respektieren und stützen, sie wird der globale Hegemon so lange als möglich hinauszuzögern versuchen. Ich würde mir wünschen, dass unsere politische und mediale Elite langsam beginnt, das zu sehen und entsprechend zu handeln. Dann wäre auch das Leben für die Menschen in diesem Land, die seinen Reichtum und Wohlstand erwirtschaftet haben, einfacher und angenehmer.

Quellen und Literatur

  1. Walach H. The grass is greener on the other side, or is it, really? Erfahrungen eines Bulmahn-Flüchtlings an englischen Universitäten [Experiences of a Bulmahn-Refugee in an English University]. Forschung & Lehre. 2009;16(3):188-91.
  2. Walach H. Englische Verhältnisse: Einige Überlegungen zur Hochschulpolitik aus englischer Perspektive. [English ways: Some thoughts on higher education politics from an English perspective]. Sozialwissenschaften und Berufspraxis 2010;33:19-28.
  3. Walach H. Sozialer Mord – „ein Mord, den jeder begeht“? Ein Schelmenstück in fünf Akten. In: Mäckler A, editor. Schwarzbuch Wikipedia Mobbing, Diffamierung und Falschinformation in der Online-Enzyklopädie und was jetzt dagegen getan werden muss. Höhr-Grenzhausen: zeitgeist; 2020. p. 77-107.
  4. Brentano F. Meine letzten Wünsche für Österreich. Stuttgart: J.W. Cottasche Buchhandlung; 1895.
  5. Walach H, Traindl H, Prentice J, Weikl R, Diemer A, Kappes A, et al. Carbon dioxide rises beyond acceptable safety levels in children under nose and mouth covering: Results of an experimental measurement study in healthy children. Environmental Research. 2022;212:113564. doi: https://doi.org/10.1016/j.envres.2022.113564.
  6. Walach H, Traindl H, Prentice J, Weikl R, Diemer A, Kappes A, et al. Reply to Commentaries-„Is mask wearing hazardous for children? No the evidence is insufficient.” by Kenzo Takahashi and Tetsuya Tanimoto & comments by Patrick Steinle and Michael F. Koller. Environmental Research. 2023:115528. doi: https://doi.org/10.1016/j.envres.2023.115528.
  7. Ioannidis JPA, Baas J, Klavans R, Boyack KW. A standardized citation metrics author database annotated for scientific field. PLOS Biology. 2019;17(8):e3000384. doi: https://doi.org/10.1371/journal.pbio.3000384.
  8. Brzezinski Z. The Grand Chessboard: American Primacy and its Geostrategic Imperatives. New York: Basic Books; 1997.