Abstand – zur Panik (5). Neue Daten und Überlegungen zur Covid-19-Ausbreitung

Ich habe zu meinen letzten Beiträgen sehr viele dankende und aufmunternde Worte gehört, aber auch ein paar kritische Rückmeldungen bekommen. Daher hier noch ein paar neue Informationen und Ergänzungen, sowie einige Überlegungen.

Informationen

Seit meinem ersten Covid-19-Beitrag „Abstand – zur Panik“ hat sich die Situation rasant verändert. Aus den damals 18.361 Fällen in Deutschland, die an Covid-19 erkrankt sind, sind (Stand 2.4.2020) 73.522 in Deutschland geworden und statt der damals 52 Todesfälle, was eine Case-Fatality-Rate (CFR) von 3 Promille oder 0.3% war, sind es heute 872 Todesfälle, die zu einer CFR von 1,2% geführt haben. In Italien sind mittlerweile 105.792 Fälle und davon 12.430 Tote gemeldet, was eine sehr hohe CFR von 11.7% ausmacht. In Deutschland ist die CFR immer noch relativ niedrig und kein Vergleich mit den 25.000 Exzess-Todesfällen der letzten großen Grippewelle. Das sollten wir immer im Auge behalten.

Eine Sorglosigkeit von mir, die jemand zu Recht angemahnt hat, war es, dass ich an anderer Stelle auf die Euromo-Daten (Europäische Mortalitätsstatistik) hingewiesen habe. Diese lassen keinen außergewöhnlichen Trend erkennen. Aber es ist natürlich richtig darauf hinzuweisen, dass diese Daten erstens immer hinterherhinken und zweitens u.U. kleinere regionale Ausreißer schlucken. Das stimmt. Wenn man sich die Italienische Situation ansieht, dann ist in den nördlichen Städten und Regionen Italiens tatsächlich eine drastisch ansteigende Mortalitätsrate zu sehen. Sie übertrifft die Sterbeziffern früherer Jahre.

Aber auch hier sieht man: Das ist ausschließlich auf die hohe Sterblichkeit der über 75-Jährigen zurückzuführen [1]. Und wenn man die Situation mit den Jahren zuvor vergleicht, dann gibt es da Jahre mit wesentlich höheren Todeszahlen als derzeit [2]. Inzwischen ist eine Studie aus Italien erschienen, die die Daten aus Italien mit denen in China vergleicht [3]. Sie kommt zum Schluss: Die höhere CFR in Italien ist höchstwahrscheinlich eine Funktion von zwei verschiedenen Faktoren. In Italien werden, anders als in China, alle Menschen die gestorben sind und bei denen Covid-19 positiv getestet wurde als am Virus und nicht mit dem Virus Verstorbene gewertet. Außerdem sind in Italien wesentlich mehr alte Menschen in den Registern als in China, denn Italien hat die zweitälteste Bevölkerung der Welt. Und auch die mit den meisten alten Rauchern, sollte man hinzufügen.

Von einer sorgfältig dokumentierten Kohorte von 355 Patienten, die Onder und Kollegen analysieren [3], waren nur drei verstorbene Patienten ohne eine andere Begleitkrankheit. Außerdem weisen die Autoren darauf hin, dass die Test-Strategie in Italien zu einer hohem Verhältniszahl von Todesfällen zu Krankheitsfällen geführt hat. Denn dort wurden leicht Erkrankte oder Symptomlose nicht mehr getestet; bei den schwer Erkrankten gibt es aber naturgemäß eine höhere Sterblichkeit.

Was ist die Konsequenz aus dieser Einsicht? Man muss vor allem die Alten und die multimorbiden Patienten mit schweren Vor- oder anderen Erkrankungen schützen. Die Isolation der gesamten Bevölkerung führt nur dazu, dass sich die Kontaktnahme der Bevölkerung mit dem Virus und damit die natürliche Immunisierung verzögert. Diese aber würde einen Herdenschutz ermöglichen.

Eine zweite Konsequenz ist, dass wir dringend verlässliche Baseline-Daten brauchen. Das sind Daten aus repräsentativen Bevölkerungsstichproben über die bereits stattgehabte Infektion, die möglicherweise nur leicht oder symptomlos verlief. Dies kann man durch Testung auf IgG oder IgM-Antikörper erreichen, die erst später erscheinen – IgM knapp nach der Infektion bzw. knapp nach überstandener Krankheit und IgG ab etwa 3 Tage nach der Infektion mit einem Höhepunkt nach 10 Tagen.

Solche Tests gibt es (z.B. https://www.hwv-corona.de/shop/-p181314060; diese Information habe ich von einem Arzt, der damit gerade eine Studie durchführt). Sie können ziemlich verlässlich zeigen, wer bereits mit mehr oder weniger stark ausgeprägten Symptomen eine Infektion mit Covid-19 hinter sich gebracht hat. Diese Information ist dringend nötig, um die Krankheitszahlen in ein vernünftiges Verhältnis zu setzen und um abschätzen zu können, ob die Strategie sinnvoll ist, die Bevölkerung einzusperren, um den Ansturm auf die Intensivstationen zu bremsen. Ob das sinnvoll ist, wissen wir nämlich nicht, sondern wir vermuten es auf Basis sehr schlechter Daten.

Daher habe ich auch bereits Ende März die Petition verlinkt, die das fordert. Sie hat innerhalb weniger Tage ihr Quorum von 50.000 Unterschriften erreicht, kann aber und soll immer noch unterstützt werden.

Inzwischen sind noch einige andere Informationen dazugekommen:

Anfang der Woche hat eine französische Arbeitsgruppe einen Vergleich von CFRs unterschiedlicher Corona-Viren-Infektionen veröffentlicht [4]. Die Autoren leiten ein Referenzzentrum für Infektionen in Marseille und haben aus ihren Daten einen repräsentativen Vergleich für die Fallzahlen verschiedener Corona-Viren-Infektionen und die damit assoziierten Todesraten errechnet. Sie fanden von Januar bis Anfang März 2020 in ihrem Krankenhaus 543 Fälle von Infektionen mit verschiedenen anderen Coronaviren und insgesamt, auch bezogen auf frühere Fälle von Corona-Viren-Infektionen, eine Mortalitätsrate von 0,8% bei diesen Patienten und weisen darauf hin, dass die Mortalitätsrate von 1.3% bei Covid-19 Infizierten in den OECD Ländern nicht wesentlich davon verschieden ist. Also sei es unwahrscheinlich, dass dieses Corona-Covid19 Virus so viel gefährlicher sei als andere Corona-Viren. Daher hat Prof. Bhakdi, der emeritierte Infektiologe an der Universität Mainz, in einem offenen Brief an die Kanzlerin in seinem Youtube-Video gefragt, wo die Daten seien, die die momentanen Maßnahmen rechtfertigen.

Eine gerade gestern erschienene kleine Untersuchung US-amerikanischer Forscher zeigt, dass das Covid-19 Virus schon relativ früh in den USA unbemerkt verbreitet wurde. Sie haben die Daten von Ambulanzpatienten einer kalifornischen Notfallambulanz der zweiten Märzwoche ausgewertet, die auf Grippe-Viren getestet wurden und wegen solcher Symptome in die Praxis kamen. 5% von den 131 getesteten Patienten, also 7, hatten einen positiven SARS-CoV-2 Test, aber nur milde Symptome; nur einer hustete. [5] Was die Autoren als problematisch ansehen, halte ich eher für eine gute Nachricht: Vermutlich haben sich bereits mehr Menschen als wir denken mit diesem Virus infiziert und sind vergleichsweise symptomarm davongekommen. Dies zu wissen wäre essenziell wichtig. Daher ist eine sorgfältige, möglicherweise sogar longitudinale Erhebung einer repräsentativen Kohorte von Menschen im Moment die zentralste Aufgabe – neben der Frage, wie wir die am meisten Gefährdeten am besten schützen können.

Wir sind durch eine neue Publikation dem Verständnis der Sache nähergekommen [6]. Forscher von der London School of Hygiene haben die Daten ausgewertet und modelliert, die sich aus der Lage an Bord des unter Quarantäne gestellten Schiffes „Diamond Princess“ ergeben haben. Wir erinnern uns: Am Anfang der Krise war das Schiff in Yokohama unter Quarantäne gestellt worden, weil Covid-19 Patienten an Bord waren. Das Schiff ist also ein kleines Minilabor. Von den 3711 Passagieren und Crew-Mitarbeitern sind 17%, also 634 Fälle positiv getestet worden, wobei fast alle Menschen auf dem Schiff getestet wurden.

Da allerdings die Patienten sofort nach Bekanntwerden der ersten Fälle auf dem Schiff unter Quarantäne genommen wurden, ist es schwer zu sagen, ob dieser vergleichsweise niedrige Prozentsatz eine natürliche Entwicklung oder eine Folge der Maßnahme war. Jedenfalls sind von diesen 634 Fällen nur 47%, also 301 Personen erkrankt, die restlichen sind symptomlos geblieben. Und insgesamt 7 Patienten sind verstorben. Sie waren alle über 70 Jahre alt. Das heißt nun nicht, dass Jüngere überhaupt nicht gefährdet sind. Insgesamt ergibt sich eine Case-Fatality-Rate von 2,6% und eine Infection-Fatality-Rate von 1,3%. Das würde bedeuten, etwas mehr als einer von 100 Infizierten stirbt, nach dieser Modellierung. Dabei wären etwa 15% von denen, die sterben zwischen 20 und 50 Jahre alt, die restlichen älter. Diese Daten, das sollte man allerdings auch sehen, sind deutlich über den Mortalitätszahlen, die wir bis jetzt aus Deutschland kennen.

Nun noch ein weiterer Punkt. Die politischen Maßnahmen berufen sich im Wesentlichen auf ein Modell, das das Robert Koch Institut (RKI) errechnet hat [7]. Es geht von einer Letalität dieser Infektion von 0,56% aus. Letalität ist eine Kennzahl, die die Anzahl aller Todesfälle zur Erkrankungsrate und der Gesamtzahl der Bevölkerung ins Verhältnis setzt. Um dies gut beurteilen zu können, ist vielleicht ein Vergleich mit früheren Pandemien hilfreich. Hier ist eine Tabelle mit den entsprechenden Zahlen der letzten großen Pandemien, von einer sehr sorgfältigen Modellrechnung des Robert-Koch Instituts [8]:

Pandemie Erkrankungsrate in % Todesfälle Mortalität je 100.000 Letalität in %
1918/19 25 426.600 691 2,76
1957/58 „asiat. Grippe“ 31 29.100 40 0,13
1968-70 „Hongkong Grippe“ 21 46.900 60 0,29
2009 „Schweinegrippe“ 9 350 0,43 0,0048

Tabelle: Kennzahlen verschiedener Pandemien in Deutschland (Ost und West gemeinsam; ich unterschlage die Bevölkerungszahl; sie liegt zwischen 62 und 82 Millionen)

Die erste große Grippewelle nach dem ersten Weltkrieg forderte weltweit um die 20 Millionen Todesopfer oder mehr. Die Erkrankungsrate, also der Prozentsatz der Bevölkerung, der erkrankte, lag mit 25% relativ hoch. In Deutschland forderte diese Welle knapp eine halbe Million Todesopfer und hatte die höchste Letalität. Wir erinnern uns: Ich habe in meinem ersten Beitrag zur Corona-Krise die Tabelle mit den Exzesstodesfällen dargestellt, die das RKI für die Grippewellen der vergangenen Saisonen geschätzt hat. Sie liegen zwischen 20.000 und 25.000 Fällen und damit nahe bei den Daten der asiatischen Grippe-Pandemie der Jahre 1957/58; die Schätzverfahren sind die gleichen, denn sie wurden an diesen Daten kalibriert.

Sehen wir uns die Letalität an, also den Prozentsatz der Bevölkerung der in Abhängigkeit von der Erkrankungsrate stirbt, so liegt er bei den letzten Grippewellen unter 0,5%. Die Frage, die sich also stellt, ist wie realistisch die Annahme einer 0,56%igen Letalität ist. Sie ist aus den chinesischen Daten errechnet und es ist unklar, ob sie wirklich für unsere Situation taugen.

Ausserdem hat, soweit ich sehe, das Modell des RKI angenommen, dass alle Menschen, die infiziert werden, auch krank werden. Das ist sicher falsch, wie wir aus den Daten der Patienten vom Schiff „Diamond Princess“ jetzt wissen. Ein Vergleich der Daten chinesischer Covid-19 Patienten mit Lungenentzündung mit Lungenentzündungspatienten der vergangenen Grippewellen zeigt, dass der Unterschied nicht so gravierend ist, wie man meinen könnte.

Das RKI hat errechnet [9]: 20% der hospitalisierten Grippepatienten mit Lungenentzündung der letzten Grippewellen benötigten Intensivpflege. Bei den chinesischen Covid-19 Patienten waren das zwischen 2% und 26%. Der Anteil der verstorbenen Patienten mit Lungenentzündung in China betrug je nach Krankenhaus zwischen 0% und 12%, bei den deutschen Patienten der letzten Grippewellen waren es zwischen 6% und 9%. Bei den chinesischen Covid-19 Patienten mit Lungenentzündung waren zwischen 18% und 30% ohne Grunderkrankung, bei den deutschen Lungenentzündungspatienten der Grippewellen waren es mit 13% deutlich weniger. Man sieht im Vergleich: Bei dieser Sars-CoV-2-Epidemie kommen etwa gleich viele Lungenentzündungen vor wie bei Grippewellen, aber die Patienten, die mit Covid-19 in die Intensivpflege kommen sind jünger und müssen dort länger gepflegt bzw. beatmet werden.

Im Prinzip hängt alles davon ab, wie hoch man die Erkrankungsrate ansetzt und genau die kennen wir nicht. Die Modellrechnungen des RKI gehen von einer hohen Erkrankungsrate um 70% aus und errechnen damit eine Anzahl von möglichen Todesfällen von etwa 330.000 oder mehr. Vor diesem Hintergrund sind die einschränkenden Maßnahmen zur Eindämmung gut zu verstehen: Das RKI-Szenario [8] geht bei ungebremster Ausbreitung von 40.000 benötigten Intensivbetten aus. Nur dann, wenn man 50% der Erkrankten oder mehr und ihre Angehörigen isolieren kann, wird die Ausbreitung so weit beherrschbar, dass die Zahl der Intensivbetten ausreicht. Aber wie realistisch sind diese Modellannahmen, frage ich?

Die Erkrankungsrate war bei keiner der vorhergehenden Pandemien so hoch, wie in diesem Szenario angenommen. Selbst wenn man die Daten von der „Diamond Princess“ zugrunde legt, dann ist die Erkrankungsrate maximal 48%, wahrscheinlich niedriger. Denn die Passagiere hatten, bevor die ersten Fälle symptomatisch und diagnostiziert wurden, ausreichend Zeit sich gegenseitig zu mischen und anzustecken. Die Tatsache dass nur 17% positiv getestet wurden und von denen weniger als die Hälfte symptomatisch wurden, spricht eher dafür, dass die Erkrankungsrate niedriger als 70% ist und vor allem dass nicht alle die infiziert werden auch symptomatisch werden und erkranken. Weil man nicht genau weiß, was auf dem Schiff alles passierte, bevor die Krankheit diagnostiziert wurde, und wie lange die Krankheit dort bereits kursierte, lassen sich keine präzisen Aussagen treffen außer der, dass die Annahme des RKI-Modells so nicht stimmen kann.

Übrigens hat das RKI in seinem Lagebericht vom 2.4.2020 die Anzahl der Tests und der positiv Getesteten genannt. In der Kalenderwoche 11 waren es 7582 Personen, die positiv getestet wurden, in Kalenderwoche 12 fast dreimal so viel, nämlich 23.820. Das sieht nach riesigem Wachstum aus. Wenn man aber weiß, dass in der KW 11 knapp 128.000 Testungen durchgeführt wurden und in der KW 12 fast 350.000, dann sieht man dass die Zahl der positiv Getesteten von 5,9% auf 6,8% und damit gerade mal um einen knappen Prozentpunkt gestiegen ist. Das bedeutet: Sowohl die Erkrankungsrate ist wesentlich niedriger, als angenommen, also auch die Verbreitungsgeschwindigkeit, vielleicht auch dank der Maßnahmen. Man sollte dabei nicht vergessen, daß auch das keine repräsentativen Daten sind, weil die Testungen hauptsächlich an Menschen durchgeführt werden, die symptomatisch sind bzw. bei denen es zu höherer Belastung gekommen ist.

Umso wichtiger ist das, was ich bereits mehrmals gesagt habe: Wir brauchen saubere Baseline-Messungen bei repräsentativen Stichproben, am besten mit einer Mischung aus IgG-Tests, um bereits stattgehabte Infektionen abschätzen zu können und Akuttests, um akute Infektionen erfassen zu können. Nur das kann uns eine Abschätzung der Erkrankungsrate bringen und diese ist nötig, um aus den vorhandenen Fällen die Letalität und damit die Gefährlichkeit abzuschätzen.

Solche Studien sind jetzt offenbar in München im Gange und auch Prof. Streeck, der Virologe aus Bonn, führt jetzt eine solche Studie an der relativ geschlossenen Kohorte von Erkranktem im Kreis Heinsberg durch. Endlich, muss man sagen!

Weil wir bereits wissen, dass Alte und Multimorbide gefährdet sind, dürfte eine Abschirmung dieser Personengruppe sehr sinnvoll sein. Ob die Abschirmung aller anderen sinnvoll ist, wage ich sehr zu bezweifeln. Immer noch, genauer gesagt, eigentlich jetzt noch mehr, als vor einer Woche.

Gedanken

Das Einsperren der Bevölkerung, das unter so freundlichen Begriffen läuft wie Selbstquarantäne, Homeoffice – und wie die Euphemismen alle noch so heißen – ist offenbar nicht unbedingt die beste Lösung. Blickt man in die Runde, dann hört man, aus der Schweiz: Die Spitäler sind leer, die Leute drehen Däumchen. Eine Kollegin, die in der Schweiz in einer Notfallpraxis arbeitet sagte mir: Die Kollegen in den Intensivstationen haben keine Arbeit, die Notfallpraxen in der Kommune sind mit panischen Leuten überrannt, die nichts haben außer Angst. Eine andere Ärztin aus Zürich schreibt mir, sie bleibe jetzt zuhause, weil niemand mehr in die Praxis kommt. Sieht so die Überlastung des Gesundheitssystems aus, die in der Schweiz für exakt diese Woche angekündigt war?

Besonders wichtig scheint mir eine verantwortlichere Kommunikation. Ich schaue ja nicht fern, aber ich weiß aus meinen Unterhaltungen mit Kollegen, Nachbarn und den Leuten im Laden, was gesendet wird. Und daher weiß ich: Die Medien verbreiten absolute Zahlen. Das halte ich für unverantwortlich.

Was, bitte, würden Sie tun, wenn ich Ihre Frage nach dem Preis der Gurke so beantworte: Die Gurke kostet Fünf. Sie würden denken, ich kann nicht vernünftig deutsch, oder ich bin dumm. Ich müsste doch sagen: die Gurke kostet 5 Euro oder 5 Cent, oder soviel wie 5 Mandarinen, oder irgend sowas, was die Zahl ins Verhältnis setzt. Genau das passiert nicht. Es wird mit Zahlen herumgeworfen, ohne dass wir wissen: Ist das viel oder wenig, wieviel ist es im Vergleich zu etwas anderem? Ist die Zahl der Todesfälle durch Covid-19 viel im Vergleich mit den 25.000 Exzeßtodesfällen der letzten großen Grippewelle? Warum hören wir erst jetzt in welchem Verhältnis die Zahl der positiv Getesteten zu der Anzahl der Tests stehen?

Das Wort von jedem Menschenleben, das zählt, ist ja sehr freundlich und human und im Prinzip stimme ich dem zu. Aber im Moment wird es so interpretiert, als müsse man jeden Tod immer und um jeden Preis vermeiden. Da zeigt sich, wie tief das von Harari diagnostizierte Projekt der Unsterblichkeit in der Moderne bereits in die Köpfe der Leute vorgedrungen ist [10]. Dass wir die Aufgabe haben, Leben zu retten soweit es geht, versteht sich für mich von selbst. Aber müssen wir deswegen das Unmögliche oder das Absurde tun? Und vor allem: rettet es wirklich Leben?

Vor ein paar Tagen hat sich der hessische Finanzminister das Leben genommen, anscheinend, weil er den Druck dieser Krise nicht mehr ausgehalten hat. Ein Todesopfer nicht des Virus, sondern unseres Umgangs mit ihm. Solche dürften sich mehren. Ich meine man sollte den Leuten sagen: Ja, es werden Leute an dieser Infektion sterben. Das ist gar nicht vermeidbar. Sie sterben auch an Grippe, an gebrochenen Herzen, an Einsamkeit, an Verzweiflung, nur findet man dann keinen Virus und zählt sie nicht jeden Tag im Fernsehen. Aber man sollte auch sagen, daß das höchstwahrscheinlich nicht mehr sein werden, als wir es von anderen Infektionskrankheiten kennen.

Man muss den Menschen in aller Deutlichkeit sagen, dass bei dieser Epidemie Leute sterben. Unvermeidlich. Vielleicht werden wir so viele Exzesstodesfälle haben, wie bei der letzten Grippewelle, also ca. 25.000. Wenn wir Glück haben weniger, wenn es schlecht läuft, mehr. Sperren wir bei einer Grippewelle die Leute weg, weil wir Tote vermeiden wollen?

Ich erinnere mich noch gut an die Grippewelle der Hongkong Grippe 1968-1970. Ich ging zur Schule, wie alle anderen auch. Ich weiß, dass in meiner Klasse manchmal bis zu einem Drittel gefehlt hat, weil sie krank waren. Das Leben ging weiter, die Grippe-Welle rollte durchs Land, mit fast 50.000 Exzesstodesfällen, wie wir heute wissen. Ist die Covid-19-Welle so viel schlimmer? Ich bin mir nicht sicher. Was hat sich seither geändert? Vielleicht einfach unsere Einstellung zur Krankheit und unser impliziter Rechtsanspruch auf Wohlbefinden, immer und zu aller Zeit? Das Perfide ist, daß wenn man versucht diesen Anspruch mit Macht geltend zu machen, er sich mit dialektischer Sicherheit in Nichts auflöst.

Ja, richtig, die Behandlungen für die, die ernsthaft krank werden, werden vermutlich komplexer und länger werden, als bei Grippewellen. Aber dafür ist ein Gesundheitssystem schließlich da und wie man allenthalben hört, ist es gerade bei uns gut genug. Warum also die Panik? Ich kann es nur so verstehen: Das Unbekannte, und der Tod hinter ihm, macht allen Angst. Wir verhalten uns wie Kinder, die die Hand vor die Augen halten, weil sie denken, wenn sie das, was ihnen Angst macht nicht sehen, dann ist es weg. Ist es aber nicht. Es wartet nur darauf, bis wir irgendwann die Hand wieder wegnehmen, weil wir sie nicht ewig vor die Augen halten können. Daher wäre es klug, ihm gleich ins Auge zu sehen.

Ich finde ja immer, dass solche Krisen Chancen in sich bergen. Hölderlin hat das mit seinem bekannten Wort schön eingefangen: „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“. Insofern wird auch diese reichlich absurde Situation etwas Gutes in sich bergen. Vielleicht, dass wir zu neuen Wegen des Arbeitens und Miteinanders finden? Dass wir bestimmte Rituale – unnötige Sitzungen und Treffen – überdenken? Dass wir uns neu darauf besinnen, wie wichtig uns unsere Rechte sind und unsere Demokratie und Freiheit, und was wir dafür bereit sind aufzugeben und was nicht?

Dass wir unsere Haltung zum Tod bewusster reflektieren? Ist Leben retten – um jeden Preis und egal wie – ein Wert in sich? Gehört nicht ein würdiges Sterben zu einem guten Leben?

Mir ist die alte persische Geschichte eingefallen: Ein Diener kauft für seinen Herrn auf dem Markt ein und sieht plötzlich den Tod, der ihm winkt. Voller Panik nimmt er das Pferd seines Herrn und reitet weit weg – bis nach Bagdad. Der Herr, auf der Suche nach seinem Diener, trifft den Tod auf dem Markt und fragt ihn, wo sein Diener wäre. Der Tod sagt, er sei erstaunt gewesen, diesen hier zu treffen und habe ihm drum zugewunken. Denn er habe eigentlich eine Verabredung mit dem Diener heute Abend in Bagdad.

Quellen und Hinweise

  1. https://www.scienzainrete.it/articolo/confermato-eccesso-di-mortalit%C3%A0-molto-superiore-ai-casi-di-covid/luca-carra-roberto-satolli; man muss auf dieser italienischen Seite nach unten blättern und sieht dann drei Sterblichkeitskurven: die der über 85-Jährigen, die der 75 bis 84-Jährigen und die der 65 bis 74-Jährigen. Ganz unten dann die Kurve der Sterblichkeit aller italienischen Städte der letzten 4 Jahre für die über 65-Jährigen. Die gelben Banden markieren die Wintersaison, mit der größten Sterblichkeit, die roten Banden die Grippesaison. Die schwarzen Kurven sind die beobachten Mortalitätsdaten, die roten Kurven die jeweils aus den vorherigen Mortalitätswerten extrapolierten Werte oder Erwartungswerte. Die offenen Kreise sind die wöchentlichen Mortalitätsziffern. Man sieht ganz rechts außen einen Ausreißer, der höchstwahrscheinlich den derzeitigen Spitzenwert darstellt und die Erwartungskurve (rot) nach oben zieht. Die schraffierten Flächen sind die Unsicherheitsgebiete der Kurve aufgrund des momentan noch nicht ganz absehbaren weiteren Trends.
  2. Man vergleiche etwa in der Kurve der italienischen Daten die wöchentlichen Mortalitätszahlen für Januar/Februar 2017 mit dem letzten Wert von 2020. Diese Zahlen von damals sind fast doppelt so hoch. Das liegt höchstwahrscheinlich daran, dass Covid-19 auf den Norden beschränkt blieb, die Grippewelle damals aber ganz Italien erfasst hatte.
  3. Onder, G., Rezza, G., & Brusaferro, S. (2020). Case-Fatality Rate and Characteristics of Patients Dying in Relation to COVID-19 in Italy. JAMA. doi:10.1001/jama.2020.4683; https://jamanetwork.com/journals/jama/fullarticle/2763667
  4. Roussel, Y., Giraud-Gatineau, A., Jimeno, M.-T., Rolain, J.-M., Zandotti, C., Colson, P., & Raoult, D. (2020). SARS-CoV-2: fear versus data. International Journal of Antimicrobial Agents, 105947. https://doi.org/10.1016/j.ijantimicag.2020.105947
  5. Spellberg, B., Haddix, M., Lee, R., Butler-Wu, S., Holtom, P., Yee, H., & Gounder, P. (2020). Community Prevalence of SARS-CoV-2 Among Patients With Influenzalike Illnesses Presenting to a Los Angeles Medical Center in March 2020. JAMA. https://doi:10.1001/jama.2020.4958
  6. Russell, T. W., Hellewell, J., Jarvis, C. I., van-Zandvoort, K., Abbott, S., Ratnayake, R., . . . Kucharski, A. J. (2020). Estimating the infection and case fatality ratio for COVID-19 using age-adjusted data from the outbreak on the Diamond Princess cruise ship. Eurosurveillance, 25(12), pii=2000256. https://doi.org/10.2807/1560-7917
  7. an der Heiden, M., & Buchholz, U. (2020). Modellierung von Beispielszenarien der SARS-CoV-2-Epidemie 2020 in Deutschland. https://doi:10.25646/6571.2
  8. Buchholz, U., Buda, S., Reuß, A., Haas, W., & Uphoff, H. (2016). Todesfälle durch Influenzapandemien in Deutschland 1918 bis 2009. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 59(4), 523-536. https://doi:10.1007/s00103-016-2324-9
  9. Tolksdorf, E., Buda, S., Schuler, E., Wieler, L. H., & Haas, W. (2020). Schwereeinschätzung von COVID-19 mit Vergleichsdaten zu Pneumonien aus dem Krankenhaussentinel für schwere akute Atemwegserkrankungen am RKI (ICOSARI). Epidemiologisches Bulletin, 14, 3-9. https://doi:10.25646/6601
  10. Harari, Y. N. (2017). Homo Deus. A Brief History of Tomorrow. London: Vintage.