Abstand – zur Panik. Fakten, Reflexionen, Gedanken zur Covid-19 Pandemie

Ich habe mich in den letzten Tagen an eine Episode aus meiner Studentenzeit erinnert gefühlt. Ich war damals ein Jahr in London zum Studium und spielte im Orchester der Universität Oboe. Wir probten eine ziemlich heikle Symphonie von Schostakowitsch. Die erste Seite der Partie war schon komplex. Ich blätterte um und fiel fast vom Stuhl: zwei Seiten nichts als Sechzehntelnoten in relativ raschem Allegro-Tempo, alles schwarz, sozusagen. Es war eigentlich chancenlos das gut zu spielen, selbst wenn man es geübt hatte, und vom Blatt war es praktisch unmöglich. Schon nach den ersten Takten war ich verzweifelt. Da fiel mein Blick auf eine fette Bleistiftnotiz, die irgendein Vorgänger oben auf die Noten geschrieben hatte:

„DON’T PANIC!“

stand da: „Nur keine Panik!“. Ich erinnere mich noch gut, wie mich allein dieser Spruch beruhigte. Zwar machte ich immer noch Fehler, aber ich war nun in der Lage, mich fürs Erste durch diese schwere Passage zu schummeln, ohne den Anschluss zu verlieren.

Das scheint mir im Moment das Wichtigste zu sein: nur keine Panik. Diese Realisierung hat mich damals gerettet. Sie hat die Noten nicht leichter gemacht, das Tempo nicht langsamer, die Technikanforderungen nicht anders. Aber sie hat durch die Beruhigung dazu beigetragen, dass alles nicht mehr ganz so dramatisch war.

Das Wichtigste, was wir jetzt brauchen ist: raus aus dem Panikmodus. Das Nächste ist, sich die Fakten aus einer gewissen Distanz und mit etwas Nüchternheit anzusehen. Was macht diese Corona-Virus Pandemie? Wie gefährlich, wie tödlich ist sie? Für wen? Wie lange?

Fakten

Zunächst einmal muss man sehen: Bei jeder größeren Grippe-Epidemie sterben relativ viele Menschen, am Virus selber oder an Folgekrankheiten oder an Verschlimmerungen von Vorerkrankungen. Ich habe in der Tabelle einmal die Daten der letzten beiden großen Wellen zusammengetragen, die das Robert Koch Institut zur Verfügung stellt [1]. Man sieht: Jedes Jahr sterben in Deutschland etwa 20.000 bis 25.000 Menschen infolge der Grippe.

Die Epidemiologen nennen das Exzesstodesfälle. Das sind Schätzungen von Todesfällen, die wahrscheinlich aufgrund der zusätzlichen Belastung durch die Infektion eingetreten sind. Die Mortalitätsrate liegt gemessen an den registrierten bzw. geschätzten Erkrankungen i.d.R. zwischen 5% bis 20%, wobei mir diese letzte Zahl aus dem Zeitraum 2016/17 sehr hoch vorkommt, aber vielleicht darauf zurückgeht, dass entweder ein Grippestamm in der Zeit sehr aggressiv war oder die Fallzahlschätzungen der Erkrankungen falsch waren.

Gemessen daran ist die Mortalitätsrate, die wir derzeit aus den weltweiten Zahlen der Corona-Virus-Infektion schätzen können mit 4% nicht höher, sondern eher niedriger [2]

Erreger Erkrankungen Todesfälle Mortalität
Influenza 2016/17 Deutschland 114.000 22.900 20%
Influenza 2017/18 Deutschland 334.000 ca 25.000 7,5%
Covid19 Deutschland 18.361 52 0,3%
Covid19 Italien 41.035 3.405 8,3%
Covid19 China 81.250 3.253 4%
Covid19 UK 3.297 145 4,4%
Covid19 Schweiz 4.840 51 1,1%
Covid19 Iran 19.644 1.433 7,3%
Covid19 Gesamt 254.653 10.415 4,1%

Tabelle: Morbiditäts- und Mortalitätsziffern der beiden letzten Influenza-Epidemien lt. RKI (Exzesstodesfälle) und der Covid-19 Pandemie lt. Johns Hopkins University (Stand der Daten 20.3.2020)

Harald Martenstein hat im Zeit-Magazin bereits festgestellt, dass es im Moment wahrscheinlicher wäre, durch einen Haushaltsunfall ums Leben zu kommen oder sich im Krankenhaus einen tödlichen Keim einzufangen, als an dem Virus zu sterben. Ich würde noch hinzufügen: Es werden wahrscheinlich mehr Leute an Nebenwirkungen von Medikamenten sterben, als an dieser Virusepidemie, weil Nebenwirkungen von Medikamenten die dritthäufigste Todesursache in der westlichen Welt sind [3]. Verbieten wir den Leuten deswegen das Haushalten, den Gang ins Krankenhaus, das Einnehmen von Medikamenten?

Ich weiß, das ist ein bisschen polemisch, aber man sollte immer auch die Dimensionen anderer Risiken im Auge behalten, denen wir uns fraglos aussetzen, um die Bedrohung durch neue Gefahren richtig einzuschätzen.

Das neue Corona-Virus kann allerdings nur begrenzt mit einer Grippe-Epidemie verglichen werden, und zwar vor allem deswegen, weil das menschliche Immunsystem noch keine Immunität gegen dieses spezielle Virus entwickelt hat. Zwar sind Corona-Viren allgegenwärtig und geistern in jeder KITA und in jedem Kindergarten herum, wenn Kinder irgendwelche Atemwegsinfekte haben, ohne dass es zu Dramen kommt. Aber Sars-CoV-2 scheint neuartig zu sein und daher haben wir keine immunologische Abwehr, die uns vor Symptomen bewahrt.

Man muss also davon ausgehen: Wenn das Virus erst einmal loszieht, dann infiziert es alle bis zu etwa 70% oder 80% der Bevölkerung. Dann ist die Herdenimmunität erreicht, wie die Epidemiologen sagen, und die Epidemie ist vorbei. Wenn es ungebremst durch England oder die USA laufen würde, so haben gerade diese Woche Epidemiologen vom Imperial College errechnet, würden in England 500.000 Menschen und in den USA 2.2 Millionen Menschen sterben, bei einer vermuteten Infektionsrate von 81% [4].

Wenn man diese Infektionsrate in Deutschland zugrunde legt bei einer Bevölkerung von etwa 80 Millionen und von einer 0,8%-igen Mortalitätsrate ausgeht, wie die englischen Epidemiologen für England vermuten (was im Übrigen, wie wir oben in der Tabelle sehen, möglicherweise falsch ist), dann hätten wir in Deutschland etwas mehr als eine halbe Million Tote zu erwarten. Wohlgemerkt, das gälte für eine ungebremste Verbreitung. Daher kann man verstehen, dass sich die Politik zum Handeln veranlasst sieht.

Diese Studie aus dem Imperial College in London, die Neil Ferguson und seine Gruppe vorgelegt haben – ein Referenzzentrum der WHO und damit Spezialisten, die sich auf solche Modellrechnungen verstehen – zeigt auch, wie sich die Mortalität verteilt: Das Verhältnis von Mortalitätsfällen auf Infektionsfälle, also das Mortalitätsrisiko für Infizierte, liegt bis zum Alter von 60 unter 1%. Für Menschen unter 30 liegt es bei 30 von 10.000 oder 0,03%, für Menschen unter 50 liegt es bei 1,5 von 1.000 oder 0,15% und dann steigt es und liegt für die über 70-Jährigen bei etwas mehr als 5% und bei den über 80-Jährigen bei knapp 10%, jedenfalls bei den Modellannahmen und Daten, die wir im Moment haben.

Das heißt also: Für alle unter 60 ist die Krankheit weniger gefährlich als eine Grippe und für die über 60-Jährigen ist sie gefährlicher. Bei der Grippe ist das Verhältnis umgekehrt. Denn bei der Grippe sind die Älteren, weil ihr Immunsystem schon mehr Erfahrung mit dieser Virenfamilie hat, eher geschützt, sofern sie keine schweren Vorerkrankungen haben, als die Jüngeren. Bei Sars-CoV-2 sind alle gleich schlecht geschützt, aber die Älteren deutlich mehr gefährdet.

Die englische Studie rechnet auch hoch, was passiert, wenn man verschiedene Maßnahmen zur Eindämmung wählt. Die asiatischen Länder waren ja mit einer radikalen Strategie der Isolation einigermaßen erfolgreich. Diese funktioniert auch gut, wie eine neue Studie gezeigt hat [5], wenn sie relativ rasch greift, wenn man schnell alle Fälle isolieren kann und vor allem alle Kontaktpersonen bis zu einer Rate von 90% und mehr finden, testen und ggfs. unter Quarantäne stellen kann. Nur ist diese Möglichkeit bei uns offenbar schon vorbei und daher kann nur noch Eindämmung funktionieren. Eindämmung heißt:  die Infektionsrate so gut wie möglich senken, damit die Ausbreitung langsamer passiert.

Aber wir sollten uns keine Illusionen machen: Erst muss die Bevölkerung mit dem Virus in Kontakt kommen, so dass möglichst viele Menschen Immunreaktionen dagegen entwickeln, bevor die Epidemie abebben kann. Die Hoffnung auf ein Medikament oder auf eine Impfung ist zwar verständlich, aber aus meiner Sicht naiv. Die Entwicklung und Testung von Impfstoffen dauert, das sagen auch die Fachleute vom Imperial College, mindestens 18 Monate [4], und dass die Entwicklung von Medikamenten gegen solche viralen Infektionen nicht sonderlich effizient ist, das haben wir an der Diskussion um Tamiflu und Neuraminidase-Hemmer zur Behandlung und Prävention der Vogelgrippe gesehen [6].

Auch zu Eindämmungsstrategien machen die englischen Epidemiologen Vorschläge und stellen Modellrechnungen vor. Sie unterscheiden die bekannten Maßnahmen: Isolieren von Fällen und ihrer Angehörigen zuhause, soziale Abschottung von über 70-Jährigen, soziale Abschottung der gesamten Bevölkerung, also Ausgangssperre, und Schließung der Schulen und Universitäten.

Sieht man sich die Modellrechnungen an, dann erkennt man: Am wirksamsten ist die Isolation von Fällen und die freiwillige Quarantäne von Familienmitgliedern, zusammen mit der sozialen Abschottung der über 70-Jährigen. Allein schon die Isolation von Fällen und deren Angehörigen ist eine ziemlich wirksame Maßnahme. Die Abschottung der gesamten Bevölkerung durch Ausgangssperre, sowie die Schließung von Schulen und Universitäten ergibt hingegen einen eher geringen zusätzlichen Effekt. Das erkennt man, wenn man die Tabelle 3 in dem leicht zugänglichen Dokument [4] betrachtet. Die Reduktion der Todesfälle beträgt um die 50%, wenn man die Symptomträger und ihre Angehörigen, sowie alle über 70 sozial isoliert, also zuhause lässt und den Umgang mit ihnen soweit als möglich unterbindet.

Wenn man hingegen die Schulen und Universitäten schließt, beträgt die Reduktion der Todesfälle irgendwas zwischen 2% und 4%. Wenn man alle symptomatischen Fälle und ihre Angehörigen isoliert sowie ein Ausgangsverbot für alle verhängt, ohne die Abschottung der über 70-Jährigen, dann beträgt die Mortalitätsreduktion irgendwas zwischen 13% und 25%, maximal 30% [7]. Wenn man zusätzlich zur Isolation symptomatischer Fälle und ihrer Familienmitglieder sowie der Personen über 70 noch die Universitäten und Schulen schließt, dann erreicht man je nach Ausgangssituation sogar eine Mortalitätsreduktion die geringer ist als 50%.

Bei keiner dieser Szenarien kommt eine komplette soziale Isolation, also eine Ausgangssperre vor. Diese hilft nur, um den Ansturm auf die Intensivstationen zu bremsen, sonst nicht.

Man sieht an diesen Modellrechnungen, dass bei Weitem die wichtigste Maßnahme die Abschottung der Symptomträger und der Familienmitglieder, sowie der Menschen über 70 Jahre sind.

Alles andere ergibt kleine Zusatzeffekte, bei denen man sich gut überlegen sollte, ob sie tatsächlich die Kosten und den Aufwand rechtfertigen. Dass die Schließung der großen sozialen Ereignisse, der Schulen und Universitäten, nicht so effizient sind, erklären die Autoren damit, dass Intensität und Dauer der Kontakte dort nicht groß genug sind. Diese Modellrechnungen gehen außerdem davon aus, dass die Maßnahmen 18 Monate durchgeführt werden, eineinhalb Jahre also, nämlich so lange, bis ein wirksamer Impfstoff zur Verfügung steht. Man sollte bedenken: das ist nach bisherigen Erfahrungen die kürzeste zu erwartende Zeitspanne.

Die drei Biotech-Firmen Moderna (US), PureVac und Biontech (D) halten es für möglich, dass noch in diesem Jahr ein Impfstoff auf Basis der neuen mRNA-Technik verfügbar sein kann, wenn auch die Zulassung beschleunigt wird. Dann würde es etwas schneller gehen. Es kann aber auch länger als 18 Monate dauern. Auf jeden Fall wären diese Maßnahmen solange wichtig, solange wir noch keinen Impfstoff haben. 

Wenn wir davon ausgehen, dass die englischen Forscher ihre Arbeit sauber gemacht haben und die Modellrechnungen einigermaßen stimmen – und hinzu nehmen, was wir sonst wissen, so ergibt sich:

Wir kommen nicht darum herum, den Großteil der Bevölkerung, jedenfalls den Teil unter 70 Jahren, langsam und gezielt diesem Virus auszusetzen, damit sich die Immunität entwickeln kann und die Verbreitung endet.

Alles andere ist Wunschdenken und unrealistisch, es sei denn, das Virus würde in kürzester Zeit so mutieren, dass es seine Virulenz verliert. Die Frage, die sich dann stellt ist also: Wie schaffen wir es, den gefährdeten Teil der Bevölkerung, also alle über 70-Jährigen, diejenigen, die normalerweise weniger in Kinos, Universitäten, Schulen und in Fußballstadien gehen, zu schützen? Indem wir alle anderen einsperren? Das scheint mir eine einigermaßen merkwürdige Strategie zu sein und dient den eigentlich Gefährdeten kaum. Denn wenn das Virus irgendwann wieder zurückkommt, weil die Maßnahmen gelockert werden, sind sie immer noch gleich gefährdet.

Die rationalste Methode des Schutzes wäre also doch wohl: die über 70-Jährigen abzuschotten, die bekannten Fälle und deren Familienmitglieder unter Quarantäne zu stellen, und den Rest der Bevölkerung in Ruhe seinen Geschäften nachgehen zu lassen.

Im Moment wird die Bevölkerung mehr oder weniger in Geiselhaft genommen, um die Älteren zu schützen. Ohne, dass man diese gefragt hätte, ob sie das wollen und das gut finden. Ich bin noch keine 70, aber wenn ich es wäre und mich jemand fragen würde, würde ich es ablehnen, dass zu meinem Wohl die Jüngeren eingeschränkt werden, ihrer Arbeit oft nicht mehr nachgehen können, dass die Kinder nicht mehr vernünftig unterrichtet werden und die Studenten keinen Austausch mehr miteinander haben.

Reflexionen und Meinungen

Was im Moment passiert, ist genau der umgekehrte Weg und es ist vor allem ein Weg, der keinerlei langfristige Perspektiven bietet. Im Gegenteil: langfristig leidet die Wirtschaft, und zwar sehr; langfristig werden viele kleine Freiberufler an den Rand des Ruins getrieben; langfristig wird das Vertrauen der Bürger in die Rationalität der Regierenden und des Staates leiden; mittelfristig wird die Empfindlichkeit der Gesellschaft gegenüber dem Virus kaum verändert werden.

Warum wird das gemacht? Ich vermute, es hängt mit folgendem zusammen:

Dieses Virus ist eine neue Bedrohung, wir kennen es nicht. Wir wissen nicht, wie sich unser Immunsystem dagegen verhält. Wir haben keine Erfahrung, kein Medikament, keinen Impfstoff. Es ist der unbekannte Feind schlechthin, und zudem noch unsichtbar. So etwas löst Angst aus. Die üblichen Rituale der Angstbewältigung greifen nicht. Die Kirchen sind zu, und wenn sie offen wären, würde es ohnehin nur eine Minderheit als Möglichkeit der Bewältigung sehen. Denken und Reden hilft auch nicht. Weglaufen kann man auch nirgendwohin, denn das Virus ist schon überall.

Und so konfrontiert uns das Virus mit dem, was wir gerne ignorieren: mit unserer Endlichkeit und Sterblichkeit. Mit einem Mal kann uns der viel gepriesene medizinische Fortschritt nicht helfen, denn bis Impfungen und Medikamente bereitstehen, können ein paar Hunderttausend, wenn nicht Millionen, Menschen, gestorben sein. Es wäre gut, wenn wir das als mögliches, nicht als notwendiges, Faktum akzeptieren.

Es hat sich lange Zeit eine Art Unsterblichkeitsoptimismus breit gemacht. Die Kollegen von der transhumanistischen Weltanschauung haben das über die letzten Dekaden munter verbreitet: Wir sind kurz davor, den Tod zu besiegen, wir arbeiten dran, es wird nur noch ein paar Jährchen dauern [8]. Auch wenn die wenigsten Menschen bewusst von dieser Bewegung gehört haben mögen, sie ist Ausdruck einer impliziten kulturellen Haltung und diese Haltung bestärkt die Bewegung wiederum. Und nun wird diesem fortschrittsoptimistischen Räderwerk plötzlich ein Knüppel zwischen die Speichen gesteckt – und rumms, purzeln alle über die Lenkstange und landen mit blutiger Nase auf der Straße.

Das Virus konfrontiert uns mit der unangenehmen Wirklichkeit, dass wir möglicherweise doch nicht so Herr unserer Lage sind, wie wir das gerne hätten. Mal abgesehen davon, dass wir das auch in anderen Bereichen des Lebens nicht sind. Denn wenn wir auf die galoppierende Erderwärmung, die sich anbahnenden ökologischen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Probleme weltweit schauen, dann sieht es nicht so aus, als hätten wir irgendetwas davon wirklich in der Hand. Natürlich, theoretisch und im Prinzip haben wir das, aber praktisch nicht. Und zwar vor allem deswegen, weil wir unseren Stil, unsere Ansprüche, unsere Lebenswirklichkeit nicht ändern wollen, wie das manche ja als einzige Option für eine nachhaltige Zukunft schon seit einer Weile fordern [9].

Und so scheint sich unser Planet ein bisschen selber zu helfen. „Wenn die Menschen nicht mehr weiterwissen, schicken ihnen die Götter eine Krankheit“, hat Rudolf Steiner offenbar einmal gesagt. Man könnte das abändern: Wenn die Menschen nicht von selber auf die Idee kommen, ihren Planeten rechtzeitig zu retten, dann schicken ihnen die Götter einen Virus, der sie so lahmlegt, ihre Kraft so bindet und ihr Verschmutzungsarsenal so bremst, dass ein bisschen Zeit gewonnen ist.

Denn der einzige, der sich über diese Situation wirklich freuen kann, ist unser Planet. Die Leute fliegen nicht mehr so viel, sie fahren nicht mehr so viel mit dem Auto, die Wirtschaft steht still und verbraucht weniger Energie, usw. Meistens beginnen Menschen über die Abwege in ihrem Leben nachzudenken, wenn sie nach einer durchlittenen schweren Krankheit in der Reha-Klinik Zeit haben. Die jetzige Situation ist für uns als Gesellschaft eine globale Reha-Station, mit Hausarrest, Kunsttherapie und allem, was dazugehört.

Ich finde, es wäre klüger, wenn wir dieses Nachjustieren zum Wohle des Planeten im laufenden Geschäft erledigen könnten, ohne dass Menschen ihre Existenz verlieren, Firmen an den Rand des Ruins getrieben werden und das kulturelle und gesellschaftliche Leben zum Erliegen kommt. Ich finde auch, dass Tod nicht das Schlimmste ist, was einem im Leben passieren kann. Schlimmer ist ein Leben ohne Perspektive, ohne Sinn, ohne Zusammenhalt, ohne Verbundenheit.

Man will das Gesundheitssystem vor Überlastung schützen und Fernsehbilder von alten Menschen, die reihenweise in Krankenhausfluren sterben, vermeiden. Ob die jetzt ergriffenen Maßnahmen das leisten, ist sehr zweifelhaft, weil es für ihre Wirksamkeit sehr wenig Belege gibt [10] und weil sie viel zu lange aufrechterhalten werden müssten. Ohne Abschottung der Gefährdeten wird es nicht gehen. Der derzeitige Aktivismus erinnert mich ein bisschen an einen alten Witz aus Kindertagen: Mäxchen pinkelt in den Dorfbach. Da kommt der Lehrer und fragt: Mäxchen, was machst Du denn da? Ich vertreibe Krokodile, sagt Mäxchen. Aber hier gibt es doch gar keine Krokodile, sagt der Lehrer. Sehen’s, es hat schon gewirkt, sagt darauf Mäxchen.

In Situationen wie diesen ist es extrem schwer, Ursache und Wirkung, sinnloses Tun von sinnvollem zu unterscheiden. Lieber erstmal möglichst viel tun, um sich nachher nicht den Vorwurf gefallen lassen zu müssen, man sei zögerlich gewesen: Das ist zwar eine verständliche Strategie, aber nicht unbedingt die rationalste, finde ich.

Man muss sich die Alternativen klar vor Augen führen. Was wollen wir? Den Ausnahmezustand für die nächsten 1,5 Jahre? Der Mehrheit die Chance geben, dass sie Immunität entwickelt zu relativ marginalen Kosten? Der Mehrheit die Illusion bewahren, dass wir alles aussitzen können, bis uns die Medizin vielleicht vor dem bösen Virus rettet?

Mir scheint, die rationalste Lösung wäre: Wir isolieren konsequent alle Fälle und ihre Angehörigen, bis sie symptomfrei sind. Wir tun unser Möglichstes, um diejenigen, die in besonderer Gefahr sind, die Alten und Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen, abzuschotten und zu schützen. Sie bleiben zuhause und bekommen – endlich, vielleicht sogar zum ersten Mal (!) – eine gute Versorgung durch Leute, die für sie einkaufen, ihnen Besorgungen erledigen und so weiter.

Und wir versuchen durch solide wissenschaftliche Methodik herauszufinden, wie stark die implizite Durchdringung unserer Gesellschaft mit dem Virus bei uns bereits ist, ohne dass alle möglichen Leute aus Hysterie und Panik mit einem einfachen Schnupfen und ein paar Rhinoviren in der Nase das Gesundheitssystem blockieren.

Denn dann hätten wir auch die Möglichkeit proaktiv bei den Leuten, die mit Symptomträgern in Kontakt waren, rechtzeitige Tests durchzuführen und sie in Quarantäne zu halten, bis das Schlimmste vorbei ist. Ich habe den Eindruck, dass wir im Moment eher in den Bach pinkeln, um die Krokodile zu vertreiben.

Quellen und Hinweise

  1. Die Daten stammen aus den letzten beiden Saisonberichten des RKI (https://influenza.rki.de/Saisonbericht.aspx); Achtung: die Mortalitätsziffern für die laufende Saison stehen jeweils nicht im laufenden, sondern im darauf folgenden Bericht und die Daten für die Influenza (Grippe)-Epidemie 2017/18 liegen im Bericht noch nicht vor sondern stammen aus einer Presseerklärung des RKI, über das das Ärzteblatt berichtet hat: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/106375/Grippewelle-war-toedlichste-in-30-Jahren; Zugriff auf diese und alle weiteren Seiten 19. und 20.3.2020
  2. Diese Zahl stammt von der laufend neu aktualisierten Seite der Johns Hopkins Universität in Maryland, die die weltweiten Daten für die WHO verwaltet und aufbereitet: https://coronavirus.jhu.edu/map.html. Man kann sich dort sowohl über die Gesamtlage, als auch über einzelne Länder informieren.
  3. – Gøtzsche, P. C. (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma Has Corrupted Health Care. London: Radcliff.
    – Gøtzsche, P. C. (2015). Deadly Psychiatry and Organised Denial. Copenhagen: People‘s Press.
  4. Ferguson, N., Laydon, D., Nedjati Gilani, G., Imai, N., Ainslie, K., Baguelin, M., . . . Ghani, A. (2020). Impact of non-pharmaceutical interventions (NPIs) to reduce COVID19 mortality and healthcare demand. London: Imperial College. Retrieved from https://www.imperial.ac.uk/mrc-global-infectious-disease-analysis/news–wuhan-coronavirus/
  5. Hellewell, J., Abbott, S., Gimma, A., Bosse, N. I., Jarvis, C. I., Russell, T. W., . . . Eggo, R. M. (2020). Feasibility of controlling COVID-19 outbreaks by isolation of cases and contacts. The Lancet Global Health, 8(4), e488-e496. https://doi.org/10.1016/S2214-109X(20)30074-7
  6. Jefferson, T., Jones, M. A., Doshi, P., Del Mar, C. B., Hama, R., Thompson, M. J., . . . Heneghan, C. J. (2014). Neuraminidase inhibitors for preventing and treating influenza in healthy adults and children. Cochrane Database of Systematic Reviews, CD008965 (April).
  7. Das Modell geht von unterschiedlichen Schwellen aus, ab denen die Maßnahmen eingeleitet werden, die im Übrigen bei uns noch gar nicht vorliegen. Daher kommen die unterschiedlichen Zahlen.
  8. – Beinsteiner, A., & Kohn, T. (Eds.). (2016). Körperphantasien: Technisierung – Optimierung – Transhumanismus. Innsbruck: Innsbruck Universität Press.
    – Benedikter, R. (2017). Homo deus? Das Zusammenwachsen von Mensch und Maschine. Analysen und Argumente – Konrad Adenauer Stiftung(270), 1-13.
    – Harari, Y. N. (2017). Homo Deus. A Brief History of Tomorrow. London: Vintage.
    – More, M. (2013). The philosophy of transhumanism. In M. More & N. Vita-More (Eds.), The Transhumanist Reader. Classical and Contemprorary Essays on the Science, Technology, and Philosophy of the Human Future (pp. 3-17). Chichester: Wiley-Blackwell.
    – Sorgner, S. L. (2019). Übermensch: Plädoyer für einen Nietzscheanischen Transhumanismus. Basel: Schwabe.
    – Stollfuß, S. (2016). Differently Constituted Body and Minds. Transhumanistische Ansätze in der Beschleunigungsgesellschaft. In A. Beinsteiner & T. Kohn (Eds.), Körperphantasien: Technisierung – Optimierung – Transhumanismus (pp. 175-189). Innsbruck: Innsbruck University Press.
    – Vita-More, N. (2012). Life Expansion: Toward an Artistic, Design-Based Theory of the Transhuman / Posthuman. (PhD), University of Plymouth, Plymouth. Retrieved from https://pearl.plymouth.ac.uk/handle/10026.1/1182 
  9. Brunnhuber, S. (2016). Die Kunst der Tranfsormation: Wie wir lernen, die Welt zu verändern. Freiburg: Herder.
  10. https://www.ebm-netzwerk.de/de/veroeffentlichungen/covid-19