Studie: Nur wer sich um sich kümmert, kann sich auch gut um andere kümmern

Ich greife heute eine ganz neue Studie auf, die ich für bemerkenswert halte: West und Kollegen haben in JAMA Internal Medicine, also dem Spezialjournal des Journals of the American Medical Association – früher hiess es „Archives of Internal Medicine“ – gerade eben eine Studie publiziert [1], in der sie untersuchten, wie sich ein Training, das auf das Wohlbefinden der Ärzte ausgerichtet war, auf ihre Zufriedenheit im Beruf und ihre Professionalität auswirkte. Das ist aus verschiedenen Gründen wichtig: Wir wissen aus einer klassischen Studie, dass sich das Mitgefühl und die Fähigkeit sich in andere einzufühlen im Verlaufe des Medizinstudiums drastisch und bedenklich verschlechtern [2]. Junge Medizinstudenten kommen voller Enthusiasmus ins Studium, verlieren ihren Idealismus gründlich und werden dann, wenn es dumm kommt, im Verlaufe ihres Arztberufes immer zynischer und brennen schließlich selber aus. Daher war es schon ein Signal allerersten Ranges, dass das JAMA vor ein paar Jahren eine Studie zu einem Achtsamkeitstraining für Ärzte publizierte, eine der ganz wenigen unkontrollierten Beobachtungsstudien die überhaupt je in diesem Journal publiziert wurden [3], die zeigte, dass durch ein Achtsamkeitstraining diese Dynamik umgedreht werden kann. Auf den Punkt gebracht: wer sich einfühlsam um sich selber kümmert, der wird auch fähig, sich um andere zu kümmern. Das gilt nicht nur für Ärzte, sondern für jedermann, würde ich schätzen.

Junge Medizinstudenten kommen voller Enthusiasmus ins Studium, verlieren ihren Idealismus gründlich und werden dann, wenn es dumm kommt, im Verlaufe ihres Arztberufes immer zynischer und brennen schließlich selber aus.

Die Studie ist noch aus einem anderen Grund bemerkenswert: Sie ging von der Mayo-Klinik aus. Diese wohl bekannteste US-amerikanische Klinikgruppe ist bekannt dafür, dass sie hervorragende medizinische Versorgung anbietet und dennoch weder teurer als andere Systeme wirtschaftet, noch seine Ärzte verheizt, noch wichtige Diagnostik oder Therapie auslässt. Ein klassischer Artikel im New Yorker hatte das seinerzeit einmal genauer dargestellt: Das Mayo-Konzept ist deshalb so erfolgreich, weil sich hier Spezialisten alle Zeit der Welt für ihre Patienten nehmen und sich gleichzeitig gut austauschen, so dass Doppeldiagnostik, Überdiagnostik und -behandlung vermieden werden. Und die Mayo-Klinik-Leitung ist innovativ und weitsichtig.

Das Mayo-Konzept ist deshalb so erfolgreich, weil sich hier Spezialisten alle Zeit der Welt für ihre Patienten nehmen und sich gleichzeitig gut austauschen, so dass Doppeldiagnostik, Überdiagnostik und -behandlung vermieden werden.

Daher hat sie jetzt in dieser Studie [1] einen Kurs innerhalb der Arbeitszeit bezahlt. Das ist bedeutsam. Denn Arbeitgeber sind mit der Arbeitszeit ihrer Angestellten geizig; die kostet ja schließlich doppelt Geld. Zum einen müssen Sie den Lohn bezahlen, zum anderen können die Angestellten in der Zeit keine Patienten behandeln, also kein Geld einwirtschaften. Und dennoch bezahlte die Klinik alle zwei Wochen eine Stunde geschützte Zeit und das über 9 Monate hinweg. In dieser Zeit konnten die Ärzte, die in der Interventionsgruppe waren, an einem Gruppentraining teilnehmen. Dessen Ziel war es, Achtsamkeit zu vermitteln, Austausch und Zugang zu ihren eigenen Problemen mit Modulen, die arztspezifische Berufsprobleme – Kommunikation, Balance zwischen Berufs- und Privatleben – behandelten. Die Kontrollgruppe konnte die Zeit nutzen, wie sie es für sinnvoll ansahen. Eine Hausaufgabenverpflichtung, etwa regelmässig Übungen zu machen oder zu meditieren, scheint es nicht gegeben zu haben. Das unterscheidet dieses Training von klassischen Gruppen-Achtsamkeitsprogrammen, wie sie auch in der Vorgängerstudie [3] untersucht worden waren.

Die Depersonalisation war 12 Monate nach der Intervention immer noch 10% niedriger als zu Beginn, wohingegen sie in der Kontrollgruppe leicht um den Nullpunkt schwankte

In jeder Gruppe wurden 37 Ärzte untersucht und auch mit einer Kohorte von 350 Ärzten verglichen, die nicht an der Studie teilnahmen, aber zu einigen Variablen Daten zur Verfügung gestellt hatten.

Auch wenn sich in manchen der erhobenen Variablen keine großen Unterschiede zeigten – Stress, Depression, Lebensqualität, Arbeitszufriedenheit waren nicht verschieden zwischen den Gruppen – so zeigten sich doch deutliche und signifikante Unterschiede in der Depersonalisation und im Engagement auch ein Jahr nach der Intervention. Die Depersonalisation war 12 Monate nach der Intervention immer noch 10% niedriger als zu Beginn, wohingegen sie in der Kontrollgruppe leicht um den Nullpunkt schwankte, und das Engagement war in der Interventionsgruppe etwa 4 mal so stark angestiegen als in der Kontrollgruppe.

Man muß diese Studie sicherlich als erste Pilot-Studie werten; denn auch in einigen anderen Skalen, etwa dem Gesamtwert der Burnout-Skala oder beim Depressionswert zeigten sich Effekte, nur war die Studie für einen statistischen Nachweis nicht groß genug. Interessanterweise ist vor allem auch die Tendenz zu der Kohorte der Nichtteilnehmer sowohl in der Interventionsgruppe, als auch in der Kontrollgruppe gegenläufig, aber stärker in der Interventionsgruppe.

Das zeigt: allein schon ein bisschen mehr Zeit für sich selber haben hilft. Wenn diese Zeit dann noch intensiviert wird, durch Übungen, Austausch, gezielte Reflexion, dann verstärkt sich der Effekt.

Ich habe mich gefragt: Was würde passieren, wenn diese Ärzte noch intensiver lernen würden, im Sinne einer Kultur des Bewusstseins, ihre Aufmerksamkeit, ihre Empathiefähigkeit, ihre Kommunikationsfähigkeit durch tägliche Meditationsübungen zu schulen? Was wäre, wenn dieses Training nicht nur in den zweiwöchentlichen Sitzungen stattfinden würde, sondern auch täglich zuhause, oder täglich in der Arbeit? Durch kleine Übungen der Achtsamkeit, wie sie mittlerweile von vielen unserer Studierenden in ihren Alltag eingebaut werden? Einmal bewusst durchatmen, bevor man den nächsten Patienten begrüsst…. Einmal spüren, wie es einem selber geht, wenn ein Patient seine Emotionen ausdrückt…. Beim Händewaschen nicht schon an den nächsten Patienten denken, sondern einfach nur das Wasser fühlen… derlei kleine Dinge und Übungen der Achtsamkeit. Sie entstehen nämlich von selber, wenn man zwischendurch regelmäßig seine Aufmerksamkeit in die Schule nimmt.

Das wäre eine spannende Studie. Vielleicht zeigt sich dann, wie in der wohlbekannten Studie von Grepmair und Kollegen [4], dass die Praxis der Bewusstseinskultur alleine schon, ohne dass sich irgendetwas am therapeutischen Verhalten selbst ändert, die therapeutische Effizienz steigert. Das wäre spannend zu wissen. Krasner und Kollegen [3] konnten in ihrer einarmigen Studie einen deutlichen Effekt von regelmäßiger Meditationsübung auf Burnout, Depression und Depersonalisation zeigen. Jetzt wäre es vielleicht langsam an der Zeit, solche Interventionen größer anzulegen und in kontrollierten Studien zu untersuchen. Denn die neue Studie von West zeigt: der Schlüssel dafür, dass sich Ärzte – und vermutlich auch alle anderen, wie Pfleger, Eltern, Lehrer – gut um die ihnen anvertrauten Menschen kümmern können, ist die Fürsorge für sich selbst. Nur wer sich selbst ernst nimmt, kann auch den anderen ernst nehmen. Nur wer für sich selbst sorgt, kann es auch für den anderen tun. Und nur wer sich selbst Bedeutung einräumt, wird es auch beim andern können.


Sehen Sie hierzu auch: „Nutzen der Meditationsforschung für die ärztliche Praxis“ – ein Vortrag von Prof. Stefan Schmidt im Januar 2014


Literatur:
[1] West, C. P., Dyrbye, L. N., Rabatin, J. T., Call, T. J., Davidson, J. H., Multari, A., et al. (2014). Intervention to promote physician well-being, job satisfaction and professionalism: A randomized clinical trial. JAMA Internal Medicine, doi:10.1001/jamainternmed.2013.14387.
[2] Newton, B. W., Barber, L., J., C., Cleveland, E., & O’Sullivan, P. (2008). Is there hardening of the heart during medical school? Academic Medicine, 83, 244-249.
[3] Krasner, M. S., Epstein, R. M., Beckman, H., Suchman, A. L., Chapman, B., Mooney, C. J., et al. (2009). Association of an educational program in mindfulness communication with burnout, empathy, and attitudes among primary care physicians. Journal of the American Medical Association, 302, 1284-1293.
[4] Grepmair, L., Mitterlehner, F., Loew, T., Bachler, E., Rother, W., & Nickel, M. (2007). Promoting mindfulness in psychotherapists in training influences the treatment results of their patients: A randomized, double-blind, controlled study. Psychotherapy and Psychosomatics, 76, 332-338.