(17) Was ist eine „wissenschaftliche Tatsache“? Ein kleines Fallbeispiel: Der „Masernprozess“

Wir hatten im letzten Kapitel der Methodenserie anhand des Replikationsproblems, das die Medizin und jetzt auch die Psychologie heimgesucht hat, gesehen: eine einzige Studie, auch wenn sie gut publiziert ist, macht noch keine Tatsache aus. Die Daten müssen auch replizierbar sein, am besten unabhängig, am besten durch andere Gruppen mit derselben oder mit einer ähnlichen Methode. Reicht das schon?

Nein. Ich habe angedeutet und schon des Öfteren hie und da ausgeführt: Wissenschaft ist ein sozialer Prozess. Und ein wesentlicher Bestandteil dessen, was wissenschaftlich akzeptiert ist, hängt vom Konsens einer Gemeinschaft von Forschenden und Spezialisten ab. Darauf hat als Erster und sehr prominent Ludwik Fleck in den 1930er Jahren hingewiesen. Er hat gezeigt wie schwer es eigentlich ist zu bestimmen, was eine Syphilis-Spirochäte ist, also der bakterielle Erreger der Syphilis. An diesem Beispiel konnte er belegen, wie entscheidend soziale Prozesse bei der wissenschaftlichen Konsensbildung sind.

Man kann seine Position zusammenfassen in dem Bonmot: „Eine wissenschaftliche Tatsache ist die Übereinkunft mit dem Denken aufzuhören.“

Ich will das im Folgenden anhand eines spannenden aktuellen Beispiels illustrieren: am „Masernvirenprozess“ und an der Frage „Gibt es das Masernvirus wirklich?“. Ja, das ist ein bisschen so wie die Behauptung „Bielefeld gibt es nicht“. Aber auch die hatte ihre Funktion.

Ausgangssituation

Im sog. „Masernvirenprozess“ geht es um die Frage, ob Dr. Stefan Lanka Herrn Dr. Bardens das ausgelobte Preisgeld von 100.000 Euro schuldet. Dieses wird ausgezahlt, „wenn eine wissenschaftliche Publikation vorgelegt wird, in der die Existenz des Masernvirus nicht nur behauptet, sondern auch bewiesen und darin u.a. dessen Durchmesser bestimmt ist.“ [1] Dr. Bardens hat sechs Studien vorgelegt, von denen er glaubt, dass sie die Kriterien erfüllen. Herr Dr. Lanka hat das verneint. In einem Zivilprozess hat Herr Dr. Bardens das Preisgeld erstritten. Der Beklagte, Dr. Lanka, hat Revision eingelegt.

Das ist eine höchst interessante Situation: Ein Einzelner, der in der Sache kompetent ist, bestreitet den Konsens der Mehrheit. Er tut dies mit Hilfe einer Provokation in Form eines Preisgeldes; sonst würde sich ja vermutlich niemand um diese Provokation kümmern. Wir können schon an dieser Stelle überlegen: wie sinnvoll ist diese Ausschreibung – jenseits der beabsichtigten Provokation – überhaupt? Kann es überhaupt prinzipiell möglich sein, mit einer Studie irgendeine Tatsache belegen zu wollen? Ich kann hier für ungeduldige Leser abkürzen: Das geht aus meiner Sicht prinzipiell nicht. Nirgendwo. Auf keinem Gebiet. Der Masernvirenprozess ist ein gutes Beispiel um das zu illustrieren.

Die Frage, die es zu klären gilt ist also, ob es sich bei den vorgelegten Arbeiten – Details siehe unten – um Arbeiten handelt, die wissenschaftlich sind und die geeignet sind, den Nachweis eines Masernvirus zu erbringen. Ich habe mir die sechs Arbeiten interessehalber mal angesehen, weil ich diese Diskussion spannend finde und will dazu ein paar Gedanken äußern.

Damit ist auch schon angesprochen, um was es nicht geht und was (um Missverständnissen vorzubeugen) auch nicht Gegenstand dieses Beitrags ist:

  • Es geht nicht darum zu klären, ob es Masern gibt oder nicht. Diese gibt es als klinisch-pathologische Entität selbstverständlich.
  • Es geht auch nicht darum zu klären, ob Masern durch irgend ein Virus ausgelöst und verursacht werden oder nicht,
  • und schon gar nicht, ob Masernimpfung wirksam und sinnvoll ist.

Was heißt nun in diesem Kontext „wissenschaftlich“?

Der Begriff der Wissenschaftlichkeit

Wissenschaftlichkeit ist ein komplexes Konstrukt. Die Tatsache, dass ein Text in einer wissenschaftlichen Zeitschrift publiziert ist sagt zunächst nicht mehr und nicht weniger, als dass kompetente Leser und Kollegen den Text verstehen, für richtig und für gut befunden haben und dass Herausgeber und Gutachter der Zeitschrift den Text interessant für ihren Leserkreis finden, in der Regel Fachpublikum. Es sagt weder etwas über den Wahrheitsgehalt, noch über die Güte der dort publizierten Information etwas aus. In diesem Sinne sind alle bis auf eine – siehe später – in diesem Prozess vorgelegten Publikationen „wissenschaftlich“. Sie erfüllen den Mindeststandard in einem wissenschaftlichen Organ publiziert worden zu sein.

Zum Begriff der Wissenschaftlichkeit gehört aber auch die konsensuelle, soziale Akzeptanz. Dies ist ebenfalls kein Wahrheitskriterium, sondern ein Kriterium für Unstrittigkeit. Strittige Meinungen werden in der Regel nicht als „wissenschaftlich akzeptiert“ oder als „wissenschaftlich“ bezeichnet, sondern von den Gegnern oft als „unwissenschaftlich“ tituliert. Damit ist meist gemeint: „nicht von der Mehrheit der auf einem Gebiet Arbeitenden akzeptierte Meinung“.

Wenn etwas allgemein wissenschaftlich akzeptiert ist, also ohne nennenswerten und vor allem sozial hochstehenden Widerspruch bleibt, wird es in der Regel als „wissenschaftliche Information“ in Lehrbücher und in die öffentliche Meinung übernommen. Dann werden Minderheitenmeinungen häufig solange ausgegrenzt und überhört, bis irgendjemand, dem oder der es gelingt aus einer vergleichsweise angesehenen Position heraus Widerspruch zu formulieren, die Debatte wieder eröffnet.

In diesem Sinne ist zweifellos die Behauptung „Masern werden durch das Masernvirus ausgelöst“ eine wissenschaftlich akzeptierte Meinung, die auch impliziert, dass es ein Masernvirus gibt und dieses als verursachendes Agens belegt worden ist. Deswegen ist die von Herrn Dr. Lanka vertretene Haltung, diese „wissenschaftliche Tatsache“ sei aufgrund eines Irrtums und durch schlechte Methodik zustande gekommen eine Minderheitenmeinung, die von der Mehrheit der Wissenschaftler als „unwissenschaftlich“ bezeichnet werden würde. Dieser Argumentation folgt ja implizit auch das Gutachten, das der im Vorverfahren bestimmte Gutachter Herr Prof. Podbielski formuliert hat.

Nun ist Mehrheitsmeinung, gerade in der Wissenschaft, kein ausreichend guter Ratgeber, auch wenn sie uns Menschen als sozialen Wesen, und auch Wissenschaftler sind soziale Wesen, näher liegt als individuell isolierte Analyse. Historische Beispiele könnten zur Genüge angeführt werden, dass und wie Mehrheitsmeinungen falsch liegen. Hier einige Beispiele.

Schon 2004 hat Dean darauf hingewiesen, dass eigentlich das monokausale Denken in der Medizin obsolet sei, vor allem in der Infektiologie, weil sich die allermeisten Infektionen nur entwickeln als Interaktion zwischen Pathogen und Wirt[2]. Weil aber der Focus auf das Pathogen leichter sei, wird die Komplexität übersehen und in einer nicht zu verantwortenden Abstraktion Monokausalität weiter zum wissenschaftlichen Standard erhoben.

Lange galt in der Astronomie die Doktrin als wissenschaftliche Lehrmeinung, dass es Planeten außerhalb unseres Sonnensystems nicht gäbe. Nicht wenige Astronomen hatten schlechte Aufstiegschancen, wenn sie sich nicht an dieses Dogma hielten. Heute sind mehrere hundert weitere Planeten bekannt.

Während des Naziregimes vertrat eine Mehrheitsmeinung deutscher Ärzte und Genetiker die Rassenlehre, die „nichtarischen Rassen“ genetische, medizinische oder sonstige Minderwertigkeit bescheinigte. Diese wissenschaftliche Meinung war bekanntlich im Handumdrehen nach 1945 als nicht haltbar verschwunden.

Eine genauere Analyse der Ernährungsdebatte, vor allem in den USA, zeigt: die seit Dekaden behauptete Gefährlichkeit von gesättigten Fettsäuren und Überlegenheit von ungesättigten Fettsäuren für Krankheitsprävention und Erhaltung des Normgewichts, die Mehrheitsmeinung und Bestandteil offizieller Positionspapiere war, stürzt derzeit unter der Last gegenteiliger Daten, die lange bekannt aber ignoriert wurden, in sich zusammen. Die sozialen Ausgrenzungsmechanismen des Wissenschaftsbetriebes hatten dazu geführt, dass Minderheitenmeinungen, wie gut begründet sie auch sein mochten, nicht gehört wurden.[3]

Überhaupt zeigt sich: Entscheidende Entdeckungen kommen häufiger vom Rande des akzeptierten Establishments als aus ihrem Zentrum.[4] Umgekehrt ist auch bekannt, dass wirtschaftliche Interessen sich häufig klug positionierter Außenseitermeinungen bedienen, um Zweifel zu sähen und Veränderungen aufzuhalten, die eigentlich wissenschaftlich ausreichend gut belegt sind, wie etwa in der Frage ob Rauchen Krebs verursacht oder menschliche Aktivität für die Erwärmung des Klimas verantwortlich ist.[5]

Das gleiche Prinzip findet natürlich auch in die andere Richtung Anwendung: wenn, wie im Gesundheitssektor, die wirtschaftlichen Interessen sehr stark sind, werden häufig sehr offensichtliche Tatbestände übersehen, weil alle Beteiligten mit Wahrnehmungsverweigerung reagieren. Denn eine andere Sicht der Dinge, könnte entscheidende Loyalitäten und Interessen stören.[6]

Insofern darf man bei allen Debatten über „Wissenschaftlichkeit“, auch hier, den Blick auf den sozialen, wirtschaftlichen und historischen Kontext des gerade verwendeten Wissenschaftsbegriffes und der damit verbundenen Werte nicht vergessen.

Die Abhängigkeit der Methodologie von sozialer Akzeptanz und historischen Gegebenheiten und die Notwendigkeit der Revision

Was ebenfalls häufig übersehen wird, ist folgender Zusammenhang: es gibt nicht die wissenschaftliche Methode, die ein für allemal festgeschrieben wäre. Neue Methoden erlauben neue Einsichten, machen alte Einsichten hinfällig oder präzisieren sie. Zwar ist die experimentelle Methode, um die es hier vor allem geht, eine mächtige und bereits lange praktizierte Methode. Aber auch sie wird immer weiter verfeinert. So war beispielsweise früher ein einfacher Vergleich ausreichend für eine wissenschaftlich akzeptable Publikation. Dies gilt für die ersten drei der hier in Frage stehenden Arbeiten. Mittlerweile ist Standard, dass Vergleiche durch Zufall erzeugt werden und in vielen Fächern sind Verblindungen nötig. Verblindung ist, wie Sheldrake in einer Umfrage herausgefunden hat, in der biologischen, medizinischen oder physikalischen Grundlagenforschung nicht üblich.[7]

Während etwa in der Parapsychologie 85% aller Experimente blind waren, waren dies in der medizinischen Grundlagenforschung nur 6%. Man sieht daran, dass methodische Stringenz oft auch davon abhängt, wie stark das Bewusstsein der agierenden Forscher dafür ist, dass in ihrem Fach die Gefahr der Beeinflussung der Ergebnisse durch die Meinung und Haltung des Experimentators ist. Rosenthal hat dies durch seine Versuche für die Psychologie, und in Analogie für die Medizin, klar belegt.[8]

Daher ist in klinischen medizinischen und in psychologischen Experimenten Verblindung üblich, in der Grundlagenforschung aber kaum. „Warum auch?“ denkt der beteiligte Forscher, „wir messen ja objektive Sachverhalte“. Aber auch solche Messungen und Wahrnehmungen können einem Wunsch geschuldet sein, wie Fleck am Beispiel der serologischen Wassermann-Reaktion zeigen konnte.[9]

Zwischendurch werden neue Standards vorgeschlagen, die sich aber nur in Teildomänen durchsetzen, weil sie komplex und aufwändig sind. Dies gilt etwa für systematische, negative Kontrollen. Von einer systematischen, negativen Kontrolle spricht man dann, wenn man eine experimentelle Prozedur in allen Details wiederholt ohne dass man das vermeintlich kausale Agens mitführt. Wenn also etwa, wie wir an diesem Beispiel sehen werden, zum Experiment eine bestimmte Form der Aufbereitung und Anzüchtung der Zellen gehört in die dann Nährlösung eingebracht wird und schliesslich das vermutete kausale Agens, dann würde eine systematische negative Kontrolle darin bestehen, für jeden einzelnen Schritt eine eigene Gruppe zu bilden. Denn nur so könnte man sehen, ob wirklich nur das kausale Agens und nicht möglicherweise Artefakte für die erhaltenen Ergebnisse verantwortlich sind.

Diese Form der Kontrollen wurde meines Wissens von Jan Walleczek und seiner Gruppe eingeführt[10]. Sie hat sich aber nicht sonderlich verbreitet, weil sie aufwändig ist. Interessanterweise wird sie vor allem von Forschern verwendet, die in Grenzgebieten tätig sind.[11]

Die sorgfältigsten Untersuchungen aus einem experimentell-medizinischen Feld mit systematisch-negativen Kontrollen stammen meines Wissens von Garret Yount.[12] Hier wurden Johrei-Heiler, eine japanische Gruppierung, untersucht, die angeblich „Ki“, eine immaterielle Form der Energie, dazu verwenden können, um Krebszellen zu verändern. Weil erste Pilotversuche positiv waren, entschieden sich die Forscher dazu, sorgfältige Untersuchungen anzustellen. Es wurden Krebszell-Kulturen angesetzt und von Johrei-Heilern, insbesondere von einem Meister, auf Distanz behandelt. In systematisch negativen Kontrollversuchen wurde nun das gesamte Setting genauso mitgeführt und aufgebaut. Es wurde ebenfalls eine Person im gleichen Abstand und für die gleiche Zeit platziert, um etwaige Temperatur oder elektromagnetische Effekte zu erfassen. Es wurde die gleiche Zeit und der gleiche Ort, die gleiche Temperatur und die gleiche Feuchtigkeit gewählt. Systematisch-negative Kontrollen wurden auch durchgeführt ohne dass eine Person anwesend war, nur um den Zeitfaktor und die Variabilität des Systems zu erfassen. Durch all diese Kontrollen wurden die anfangs positiven Befunde als nicht stabil genug dokumentiert und der „Heil-Effekt“ als Artefakt entlarvt.

Man sieht an diesem Beispiel: von der Gemeinschaft weniger akzeptierte theoretische Modelle müssen bei der experimentellen Untersuchung in der Regel viel stärkere Kontrollen über sich ergehen lassen. Die Stärke der Kontrolle ist in der Regel davon abhängig, wie stark die apriorische aus theoretischen Modellannahmen und unsystematischen Erfahrungen abgeleitete Sicherheit dafür ist, dass ein bestimmter Sachverhalt wahrscheinlich ist. Insofern ist dies immer auch historisch mit bedingt und durch den momentan herrschenden Mainstream vorgegeben. Ist die allgemeine Haltung aufgeschlossen und positiv, genügen weniger starke Daten, um die Mehrheit der Forscher zu überzeugen. Dann unterlässt man häufig wichtige Kontrollen.

Was „wissenschaftlich belegt“ ist, wird also nicht nur von der Methode diktiert, sondern auch von der Interaktion eines momentan geltenden Modells mit methodischen Überlegungen und mit apriorischen Überlegungen zur Wahrscheinlichkeit einer Vermutung aufgrund anderer Erkenntnisse, aufgrund herrschender Auffassungen und aufgrund einer Hintergrundtheorie.

Aus dem Gesagten ergibt sich: ein Experiment, eine Publikation kann überhaupt nie komplette Sicherheit geben und schon gar keine wissenschaftliche Tatsache begründen. Dies geschieht vielmehr in einem komplexen Austauschprozess, in dem wichtige Publikationen zur Quelle von Diskursen werden: sie werden repliziert, sie werden kritisiert, sie werden kommentiert. Und am Ende eines komplexen sozialen Verhandlungsprozesses unter Fachleuten – vieles davon findet nicht schriftlich statt, sondern in Diskussionen – steht dann eine „wissenschaftliche Tatsache“.

Daher kann man die Ausschreibung nur als Provokation sehen, die die wissenschaftliche Gemeinschaft zum Überlegen aufruft. Es ist interessant zu sehen, wie ein Antwortender aus dem Mainstream heraus auf diese Provokation von Dr. Lanka reagiert. Sehen wir uns die Studien genauer an.

Die Arbeiten

Studie Nr. 1

Enders, J.F. & Peebles, T.C. (1954) Propagation in tissue cultures of cytopathogenic agents from patients with measles. Proceedings of the Society for Experimental Biology and Medicine, 86(2): 277-286

Diese Studie berichtet über eine experimentelle Untersuchung. Von 7 Kindern, die klinisch an Masern erkrankt waren, wurden Rachenabstriche, Blutproben und Stuhlproben genommen und biologisch weiterverarbeitet. Diese wurden dann durch geeignete Verfahren so behandelt, dass anzunehmen war, dass etwa Bakterien nicht mehr aktiv sein konnten. Die Substanzen wurden zentrifugiert und mit Penicillin und Streptomycin behandelt. Außerdem wurde 2 ml sterile, fettfreie Milch zugesetzt. Anschließend wurde die so gewonnene Lösung in verschiedene Zellkulturen eingebracht und die Veränderungen mikroskopisch beobachtet und mit unbehandelten Zellkulturen verglichen. Die Autoren stellen pathologische Veränderungen fest, die sich als Vergrößerungen der Zellen manifestieren und ein „Einwandern“ fremder Substanz in den Zellkern nahelegen, so dass das Chromatin, also die Chromosomen und die sie umgebenden Stützmoleküle abgedrängt werden. Außerdem zeigen sich hemmende Effekte, wenn das infektiöse Isolat erhitzt wurde, in andere Zellen eingebracht und dann infizierten Zellen zugesetzt werden. Eine Kühlung hingegen verändert die Infektiosität nicht. Dies legt indirekt nahe, dass es sich bei der Fremdsubstanz um Eiweiß handeln muss.

Die Autoren werten ihre Befunde als vorläufig: „It is our purpose to describe here these observations in a preliminary manner. Additional evidence … will be sought in future investigations.” (S. 278) Sie bezeichnen am Schluß ihres Aufsatzes die Daten als “indirect evidence” (S. 286). Dieser indirekte Beleg müsse ergänzt werden durch noch zwei auszuführende Experimente: der direkten Erzeugung von Masern im Affen und im Menschen mit dem Material aus den Gewebekulturen.

Methodische Bemerkungen und Kommentar:

Die Studie wurde an Material von 7 Kindern gemacht, die alle klinisch an Masern erkrankt waren. Von 5 Kindern konnte infektiöses Material isoliert werden Das Material von einem Kind führte beim Rachenabstrich nicht zu den pathologischen Veränderungen, die bei dem Material der anderen 4 Kinder beobachtet wurden. Damit ist eine 100%ige Infektiosität nicht gegeben. Die Autoren haben sicherlich versucht, im Rahmen der damals gültigen Kenntnisse Fehler zu vermeiden. So haben sie ihre Lösungen durch Zugabe von Antibiotika so zu behandeln versucht, dass bakterielle Verursachung von pathologischen Veränderungen nach Möglichkeit auszuschließen wäre. Allerdings bleibt nach heutigem Kenntnisstand immer noch die Möglichkeit offen, dass resistente Stränge überlebt und sich im Rahmen der doch relativ langen Inkubationszeit (14-21 Tage, S. 281) vermehrt haben. Allerdings wurde das Inokulat durch Mikrofilter filtriert, das Serratia marcescens, ein Bakterium, zurückhalten kann, und das Inokulat, sagen die Autoren, sei frei von Bakterien gewesen, was sie durch negative Wachstumsversuche zeigen konnten. Daher ist es plausibel anzunehmen, dass kein Bakterium, zumindest keines, das zur damaligen Zeit bekannt war, für die infektiösen Veränderungen verantwortlich ist.

Allerdings, das stellen auch die Autoren selbst fest, könnte es sein, dass andere infektiöse Agentien im Gewebe der Affen verantwortlich seien, denn nur Gewebe von Affen habe sich in diesem und in anderen Versuchen konsistent zur Weitergabe infektiöser Agentien geeignet gezeigt: „only those in which monkeys were employed as the experimental animal have been consistently confirmed by other workers. Great caution should therefore be exercised in the interpretation of any new claims that the virus has been propagated in other hosts or systems.“ (S. 285)

Die Autoren mahnen also zur Vorsicht, und das zu Recht. Ob die Mängel, die die Autoren selbst bemerken, in späteren Studien von ihnen selbst oder von anderen behoben worden sind, ist nicht Gegenstand dieser Betrachtung. Offenbar wurden die Beobachtungen von anderen Autoren bestätigt, wie Studie 2 berichtet.

Außerdem ist noch festzuhalten, dass zwar die Experimentallösung mit vielerlei Substanzen – sterilisierter Milch, Antibiotika, Trypsin, etc. – behandelt wurde, nicht aber eine Kontroll-Lösung eingebracht wurde, die die gleichen Substanzen ohne die  Abstriche bzw. Sera aus Blut oder Stuhl enthielt. In diesem Sinne sind die Vergleiche, auch wenn sie sehr überzeugend sind, nicht wirklich äquivalent. Es wurde keine systematisch-negative Kontrolle mitgeführt. Man muss zwar fairerweise sagen, dass sich diese strikte Kontrolle erst in den letzten Dekaden eingebürgert hat – insofern haben die Autoren nach den damaligen Standards sauber gearbeitet, sonst wäre die Arbeit ja auch nicht in einem Fachblatt publiziert worden – aber ein eindeutiger Beleg dafür, dass einzig und allein der Abstrich bzw. die Sera für die Veränderungen in Frage kommen können, die beobachtet wurden, kann diese Studie nicht sein. Allenfalls taugt sie als Mosaikstein in einem größeren Bild.

Es ist noch wichtig darauf hinzuweisen, dass die Autoren den Begriff „Virus“ in diesem Text noch im alten, lateinischen Sinne als „infektiöses Agens“ oder „Gift“ verwenden. Aus diesem Grund reden sie auch meistens von „infectious agent“ oder „etiologic agent“.

In der Zusammenschau sieht man: die Studie belegt, dass man mit Material aus Abstrichen und Blut von Kindern, die klinisch an Masern erkrankt sind, zellverändernde Prozesse in Zellkulturen erzeugen kann. Aber zum einen geschieht dies nicht mit allen Materialien. Zum anderen benötigt es mit 2 bis 3 Wochen relativ lange. Außerdem kann durch die Versuchsanordnung nicht sicher gestellt werden, dass wirklich nur ein infektiöses Agens aus dem Material der kranken Kinder für die Veränderungen verantwortlich ist und nicht etwa Charakteristika, die den untersuchten Affenzellen inhärent sind und durch die Behandlung zum Vorschein gekommen sind. Schließlich ist aus heutiger Sicht nicht auszuschließen, dass resistente Mikro-Bakterien zu den beobachteten Veränderungen geführt haben. Der Begriff „Virus“ wird hier im übertragenen Sinne verwendet. Ein Beweis für die Existenz eines Masernvirus kann die Studie also nicht abgeben, sondern allenfalls einen argumentativen Baustein in einer notwendig komplexeren Argumentation.

Studie Nr. 2

Bech, V. & von Magnus, P. (1958) Studies on measles virus in monkey kidney tissue cultures. Acta Pathologica Microbiologica Scandinavica 42(1):75-85.

Diese Studie repliziert im Wesentlichen die Befunde von Enders & Peebles (1954) und berichtet über zwei weitere Replikationen, die in der Zwischenzeit stattgefunden hätten. Es ist für die Zwecke hier von Bedeutung, dass die Methodologie im Wesentlichen wiederholt wurde. Der Unterschied besteht darin, dass die Kulturmedien und die Suspensionsmedien, in denen die erhaltenen Specimen von Abstrichen bzw. Blut aufbewahrt bzw. angezüchtet wurden, andere sind. Wiederum wurden Penicillin und Streptomycin als antibakterielle Substanzen verwendet. Die Isolation des infektiösen Agens, das in dieser Publikation fast durchgehend reifizierend als „Virus“ bezeichnet wird, geschah durch Abstriche im Hals oder durch Gurgeln mit Nährlösung oder aus Blut. Wichtig für weitere Überlegungen sind an dieser Stelle folgende Beobachtungen:

  • Untersucht wurden 13 Patienten, 5 von diesen zeigten positive Reaktionen („virus recovered“), die anderen 8 nicht.
  • Nur bei einem von 11 Patienten konnte eine Anzüchtung aus Blut nachgewiesen werden.
  • Die von den Autoren behauptete Korrelation einer leichteren Nachweisbarkeit bei frühen Entnahmestadien lässt sich nicht halten: Bei 3 der 5 nachgewiesenen Agentien handelt es sich um Infektionen, die 24 oder 18 Stunden zurückliegen, bei 2 Personen ist die Zeit kürzer. Dem stehen negative Befunde bei den 2 anderen Patienten gegenüber, bei denen die Entnahmezeit weniger als 24 Stunden nach Infektionsbeginn lag.
  • Die zytophatologischen Veränderungen, die berichtet werden, kommen offenbar auch bei nicht infiziertem Gewebe der Affenniere vor und können daher kaum als pathognomonisch bezeichnet werden, was im Übrigen auch von den anderen Autoren beschrieben wurde: „cytopathic changes similar to those caused by measles virus may be observed also in uninoculated cultures of monkey kidney tissue (Fig. 4-5). These changes are probably caused by virus-like agents, so called ‚foamy agents‘, which seem to be frequently present in kidney cells from apparently healthy monkeys“ (S. 80).

Vor allem letztere Beobachtung scheint mir bemerkenswert, weist sie doch auf die Unspezifität genau der pathologischen Veränderungen hin, die als Ausgangspunkt für den optischen Beleg einer Infektion in der ersten Publikation von Enders & Peebles gedient hat.

Als Beleg für die Richtigkeit der These, dass es sich um ein „Virus“ handelt, wird angeführt, dass ein „Komplement-Fixationstest“ positiv war. Dieser wurde an insgesamt 4 Patienten vorgenommen. Unter der plausiblen Annahme, dass sich die in Tabelle 2 berichteten Patientennummern auf die ursprünglich in Tabelle 1 berichteten Patienten bezieht, wären demnach unter den 4 Patienten zwei, bei denen ursprünglich kein Virus isoliert werden konnte, bei einem Patienten war dies erfolgreich und der vierte Patient ist neu. Es bleibt unklar, bei wie vielen Patienten dieser Fixationstest mit negativem Ergebnis vorgenommen wurde, oder warum nicht bei allen dieser Test gemacht wurde.

Enders & Peebles hatten angemahnt, dass erst eine experimentelle Verursachung der Erkrankung durch Isolat bei Affen oder Menschen die Ursächlichkeit belegen könnte. Daher wurde hier an zwei im Labor gezüchteten Rhesusaffen ein Infektionsexperiment gemacht. Einer der beiden Affen zeigte subklinische Symptome. Bei beiden sei ein entsprechender Antikörpertiter festgestellt worden.

Methodische Bemerkungen und Kommentar:

Die Studie leidet im Prinzip unter denselben Schwächen wie die Ursprungsstudie von Enders & Peebles:

  • Es besteht die Möglichkeit, dass die Veränderungen durch resistente, nicht von den Antibiotika erfasste Bakterienstämme verursacht wurden.
  • Es besteht die Möglichkeit, dass irgendwelche Substanzen in den Lösungsmedien für die Veränderungen verantwortlich sind.
  • Es besteht die Möglichkeit, dass eine Interaktion zwischen Lösungsmedium und Affenzelle zu der beobachteten Veränderung führt.
  • Die Rate von 5 Patienten von 13 liegt unter 50% und damit weit entfernt vom Kochschen Postulat einer 100%igen infektiösen Kausalität[13].
  • Die Übertragung der Erkrankung auf den Affenorganismus gelang in einem von 2 Fällen. Ein Antikörpertiter wurde bei beiden festgestellt; eine vorherige Infektion mit Masern ausgeschlossen. Allerdings verliert diese Aussage auf dem Hintergrund der Aussage, dass ein „foamy agent“ in den Nierenzellen der Affen genauso gut für die Veränderung ausschlaggebend sein könne, an Überzeugungskraft, da auch nicht ausgeschlossen werden kann, dass dasselbe „foamy agent“, das bei Affen natürlicherweise vorhanden ist, zu der festgestellten Antikörperreaktion hätte führen können.

Sprachlich lässt sich feststellen, dass im Verlauf eines Jahres und dreier dazwischen liegenden und zitierten Publikationen offenbar die Meinung, dass es sich bei dem infektiösen Agens um ein „Virus“ handle, als selbstverständlich vorausgesetzt wird, weil praktisch nur noch vom „Virus“ die Rede ist. Dies ist ein interessantes Beispiel dafür, wie durch Begriffe Realität erzeugt wird, anstatt dass Realität begriffsbildend wird.

Zusammengefasst kann diese Studie nicht belegen, dass es „das“ Maservirus gibt. Was die Studie zeigt, ist, dass es ein infektiöses Agens gibt, das in weniger als 50% der Fälle nachgewiesen werden kann, das aber genauso gut auch bereits in den Zellen vorhanden hätte sein können. Es hätte auch, das übersehen die Autoren, irgendwo in den Zuchtmedien oder in der Interaktion entstehen können. Dies wäre nur durch systematisch-negative Kontrollen auszuschließen gewesen, die zur damaligen Zeit nicht üblich waren.

Studie Nr. 3

Nakai, M. & Imagawa, D.T. (1969) Electron microscopy of measles virus replication. Journal of Virology, 3(2): 187-197.

Diese Studie stellt eine elektronenmiskropische Beschreibung des fraglichen infektiösen Agens, hier bereits als “Masernvirus” bezeichnet, zur Verfügung. Es beschreibt im Eingang frühere Arbeiten, die Grössenordnungen von 100-150 nm bzw. 120-250 nm beschrieben hätten. Hier sollen die verschiedenen Stadien der Replikation des Virus beschrieben werden. Dazu wird der sog. „Edmonston strain“ des Virus „propagated in HeLa cells[14]“ verwendet. Die dazu angegebene Literatur verweist auf die Originalarbeit von Enders & Peebles (1954), Studie 1 oben. Die Gewinnung des Virus ist nicht beschrieben; die Publikation lässt hier zwei Interpretationen zu: 1) Die originalen Isolate von Enders & Peebles, die damals von diesen in Zellkulturen eingebracht worden sind, wurden auch hier verwendet. 2) Die Methoden, die Enders & Peebles zur Gewinnung von infektiösem Material beschrieben haben, wurden auch hier verwendet. Welche der beiden Interpretationen zutrifft, ist schwer zu sagen. Diese wurden in neue HeLa-Zellen eingebracht, mit verschiedenen Reagenzien versetzt, weiter angezüchtet und mit Hilfe von vier ansteigend langen Zentrifugationsschritten gereinigt, offenbar mit der Idee, dass am Ende das leichteste Partikel, das Virus, im Filtrat übrig bleiben würde und so für die Inspektion durch das Mikroskop zur Verfügung stehen würde. Es wurden verschiedene, unterschiedlich geformte Strukturen gefunden („the virions are pleomorphic“, S. 189), die sehr unterschiedliche Größen von 180 bis 600 nm aufwiesen.

Die Behandlung der Kontrollen wird nicht erwähnt. Es heißt hierzu in der Publikation nur: „Control preparations of uninoculated HeLa cells were examined in a similar manner” (S. 188). Dies kann man so deuten, dass auch die unbehandelten HeLa Zellen einer ähnlichen, stufenweisen Zentrifugation ausgesetzt waren und ebenso mikroskopisch untersucht wurden. Dies kann man aber auch so deuten, dass die Kontrollzellen im Sinne einer systematisch-negativen Kontrolle mit den gleichen Reagenzien versehen worden sind. Da dies aber nicht weiter erwähnt wird, und anzunehmen ist, es wäre erwähnt worden, da es sich ja um einen aufwändigen Herstellungsschritt gehandelt hätte, kann man nicht davon ausgehen, dass solche systematisch-negative Kontrollen erzeugt worden sind. Über die Befunde bei Kontrollzellen wird nichts berichtet. Die Abbildungen zeigen nur experimentelle Zellen, keine Kontrollen zum Vergleich.

Die Autoren schreiben, dass die von ihnen beobachteten zytoplasmatischen Einschlusskörper, also Einschlüsse im Zytoplasma der infizierten Zellen, mit der Formung neuer Viruspartikel zusammenhängen könnten, bezeichnen dies aber als Spekulation, die durch ähnliche Untersuchungen mit klarer immunologischer Markierung bestätigt werden müssten. Das gleiche gilt für Einschlusskörper im Zellkern. Es sei unklar, wie diese mit einer möglichen Virusreplikation zusammenhingen: „The relationship between the nuclear inclusion body and the replication of measles virus is not clear.“ (S. 196)

Methodische Bemerkungen und Kommentar:

Die Validität der Studie geht von drei Voraussetzungen aus, die im Rahmen der Publikation nicht klar sind:

  • Die Studie macht die Voraussetzung, dass die Methode von Enders & Peebles dazu geeignet ist, ein infektiöses Agens zu isolieren; jedenfalls wird diese Studie als Referenz für das Isolat angegeben. Nähere Angaben zur Gewinnung wurden nicht gemacht. Dies kann daran liegen, dass die Gewinnungsmethode zu diesem Zeitpunkt allgemein akzeptiert war, oder dass sie hier einfach angewandt wurde. Es bleibt unklar, ob das Agens neu gewonnen worden ist, oder seit Enders & Peebles, also seit 15 Jahren, in Zelllinien weiterkultiviert worden ist.
  • Die Studie nimmt an, dass durch die Neuanzüchtung des infektiösen Agens und die Filtration bzw. Zentrifugation nur das infektiöse Agens isoliert wird.
  • Die Studie geht davon aus, dass die Reagenzien, die zur Zubereitung der Proben den HeLa-Zellen beigefügt worden sind, irrelevant sind.

Es bleibt vor allem unklar, wie das vermeintliche Virus angezüchtet und in den Zellen vermehrt worden ist. Die Wortwahl der Autoren („The Edmonston[15] strain of measles virus [6 – dies verweist auf Enders & Peebles 1954; Publikation 1 oben], propagated in HeLa cells, was used in this study.“ S. 187) trägt nicht zur Klärung bei. Dies ist die einzige Angabe zur Art der Gewinnung des infektiösen Agens.

Eine systematisch-negative Kontrolle, also eine Kontrollbedingung, die genauso behandelt wurde wie die experimentellen Zellen, inklusive Färbung, Inkubation etc., scheint nicht stattgefunden zu haben. Vielmehr wurden offenbar einfach unbehandelte Zellen inspiziert. Was genau mit den Kontrollzellen geschah, wird nicht berichtet. Ob in den Kontrollzellen Strukturen ähnlicher Art gefunden worden sind oder nicht, darüber sagt die Publikation nichts aus.

Nebenbei bemerkt erscheint die Größenvarianz der gefundenen Strukturen bemerkenswert: Vorgängerstudien berichten von einer Größe von 100-150 nm, bzw. 120-250 nm. Hier wurden Partikel der Größenordnung zwischen 180-600 nm gefunden.

Zusammenfassend ergibt sich, dass trotz der suggestiven Hinweise und Bilder diese Studien keinen Beweis im strengen Sinne liefern. Dazu hätte eine systematisch-negative Kontrolle durchgeführt werden müssen und klar berichtet werden müssen, dass in diesen Kontrollen keinerlei Hinweise auf ähnliche Partikel gefunden worden sind. Nun kann natürlich ein Befürworter sagen, dies sei selbstverständlich und daher nicht der Rede wert gewesen. Obwohl eine solche Argumentation nachvollziehbar ist, wäre im strikten Sinne hier mindestens ein Satz zu dieser Aussage nötig gewesen. Diese Tatsachen gemeinsam: nämlich dass unklar ist, woher das infektiöse Agens stammt, oder wie genau die Kontrollen behandelt worden sind und dass unklar ist, ob irgendetwas in den Kontrollen sichtbar war und wenn ja was, sie machen diese Studie als Argumentationshilfe unbrauchbar.

Publikation Nr. 4

Lund, G.A., Tyrrell, D.L.J., Bradley, R.D. & Scraba, D.G. (1984) The molecular length of measles virus RNA and the structural organization of measles nucleocapsids. Journal of General Virology, 65: 1535-1542.

In dieser Studie sollte die Struktur der RNA des Masernvirus elektronenmikroskopisch untersucht werden. Dazu wurde ein Virusstamm angezüchtet und in Zellen eingebracht. Diese wurden dann 72 Stunden inkubiert und nachdem 90-95% der Zellen deutlich sichtbare zytopathologische Effekte gezeigt hatten einer Reinigungsmethode unterzogen. Daraus wurde das vermutete Virusisolat gewonnen, das dann weiter untersucht wurde. Hierzu wurde die überständige Flüssigkeit mehrfach behandelt und zentrifugiert, so dass idealerweise das Virus übrig bliebe. Das Ergebnis wurde elektronenmikroskopisch untersucht, um die Struktur, Größe und Form der Virus-RNA bestimmen zu können.

Teil der Untersuchung ist ein elektronenmikroskopisches Bild eines  repräsentativen Virus (Bild 3a). Die Autoren stellen fest, dass die von Nakai & Imagawa (1969) bereits berichtete Vielfalt von Gestalt und Größe („pleomorphic“ S. 1537) auch hier wieder gefunden wurde. Berichteten Nakai & Imagawa (1969) von 180-600 nm, so wurden hier Partikel zwischen 300 und 1000 nm gefunden, also etwa um den Faktor 1.5 grösser als bei Nakai & Imagawa. Das abgebildete Virion hat eine Größe von 500nm und ist damit etwa in der Mitte der Streubreite.

Des weiteren wurden Strukturen visuell untersucht, Längenmessungen angestellt und die Feinstruktur der Nukleokapside erfasst, also jener Proteinstrukturen, die die Virus-RNA enthalten. Es werden Berechnungen zu deren Form, Länge und Menge innerhalb eines Virions angestellt, die für die hier vorliegende Fragestellung nicht weiter erheblich sind.

Methodische Bemerkungen und Kommentar:

Über Kontrollversuche wird in dieser Publikation nicht berichtet. Dies scheint auf den ersten Blick auch nicht nötig, legt aber auch die potenzielle Schwachstelle der gesamten Argumentationskette offen. Diese Publikation stützt sich auf die Annahme, dass durch Infektion und Anzüchtung in der Tat ein Virus isolierbar ist, das dann charakterisiert und weiter untersucht werden kann. Wenn diese Annahme stimmt, dann ist die hier berichtete Form, Größe und Vielgestaltigkeit des Masernvirus tatsächlich belegt. Ist sie falsch, dann sind die hier berichteten Eigenschaften einem anderen Partikel zugehörig.

Damit zeigt sich, dass sich die Publikation, wie allgemein in der Wissenschaft üblich, auf die kumulierte Wahrheit in der Literatur, also auf Vorgängerexperimente und –arbeiten stützt. Dies ist zeitsparend und in gewisser Weise sinnvoll. Erhöht aber auch offensichtlich die Fehlerabhängigkeit. Wenn nämlich, zunächst rein hypothetisch, durch das berichtete Verfahren Zellbestandteile aus Zellen weitertransportiert worden wären, dann würden sich alle Analysen auf solche Bestandteile beziehen, die dann anschließend als Viruspartikel (fehl-)gedeutet worden wären. Ein solches Versehen wäre nur auszuschließen, wenn ein einziges Mal, durch eine eindeutige systematisch negative Kontrolle, also eine Kontrollprozedur, bei der alle Schritte (Anreicherung, Inkubation, Färbung, Zusetzung von Reagenzien und Nährlösung) ohne die ursprüngliche Impfung mit vermutlich infektiösem Material, vollzogen worden wären. Dies ist aber zumindest in der hier vorliegenden Literatur nicht geschehen.

Daher könnte es rein theoretisch sein, dass das, was hier sichtbar wird, kein Virus aus dem Masernisolat ist, sondern z.B. eines, das in den Zelllinien enthalten und weitergezüchtet worden ist, oder eine Mischung daraus. Da die beobachteten Partikel „pleiomorph“ sind, also viele Gestaltungen und auch sehr unterschiedliche Größen haben können, ist die Frage, ob sich ein Partikel nun einer bestimmten Virenpopulation zuordnen lässt, wohl nicht so leicht zu beantworten.

Die Diskussion erinnert an die von Ludwik Fleck berichtete, die anhand der Wassermann-Reaktion und verschiedener Färbetechniken die Syphilis-Spirochäte als Faktum erst hat erzeugen lassen[16]. Fleck kam zu der Auffassung, dass eine wissenschaftliche Tatsache eine Übereinkunft sei. So ähnlich kann man auch hier davon ausgehen, dass es eine Übereinkunft darstellt, die gefundenen Partikel als Masernvirus zu bezeichnen. Ein „objektiver“, methodisch unabhängiger Sachverhalt ist dadurch kaum zu begründen. Denn dazu müssten eine wichtige Forderung in dieser Publikation – oder in Vorläuferpublikationen, auf die sich diese Publikation stützt – erfüllt gewesen sein, die in den hier vorliegenden Texten nicht zu entdecken sind:

Es müssten systematische negative Kontrollen durchgeführt worden sein, die hätten ausschließen können, dass die propagierten, angezüchteten und vermehrten Bestandteile tatsächlich aus dem Virusisolat und nicht aus den Zellkulturen selbst kommen. Immerhin gibt es ja die theoretische Möglichkeit, die von einer Minderheit auch immer wieder vertreten wurde[17], dass Krebszellen selbst infektiöse Agenzien, etwa Bakterien oder Viren, enthalten. Wenn dies so wäre, dann würden sie durch die hier verwendeten Anzucht- und Anreicherungsverfahren ebenso weiter gezüchtet und isoliert werden wie das eingebrachte Inokulum.

Dass in dem in dieser Publikation in Abbildung 3 dargestellten Bild ein Partikel abgebildet ist, das RNA enthält, die vermessen, charakterisiert und im Detail beschrieben worden ist, scheint mir einleuchtend. Ob dieses Partikel allerdings aus dem Maserninokulat stammt, oder aus den Zellen selbst, dies ist nicht eindeutig ersichtlich. Die Tatsache, dass dies nicht als Problem diskutiert wird, kann zwei Dinge bedeuten:

  1. Es gibt eine Publikation, in der dies geschehen ist und auf die sich alle anderen Publikationen beziehen. Die oben besprochenen gehören sicher nicht dazu, und ein Beleg für diese behauptete Möglichkeit ist bislang in keinem Text ersichtlich.
  2. Es ist bislang nicht als methodisches Problem erkannt worden.

Mir scheint b) die wahrscheinlichste Variante zu sein: läge methodisches Problembewusstsein vor, dann würde sich jeder Autor, der zu diesem Thema publiziert, gezwungen fühlen, die entsprechende Referenz zu zitieren oder würde mit einem Satz im Methoden- oder Diskussionsteil darauf verweisen. Da dies nicht geschieht, wurde das Problem höchstwahrscheinlich entweder nicht erkannt, oder wenn erkannt, dann nicht für relevant befunden.

Zusammenfassend kann diese Studie zwar mit einem eindeutigen Bild aufwarten, das auch durchaus als Viruspartikel angesprochen werden kann. Aber sowohl die angesprochene Vielgestaltigkeit, als auch die Größenvarianz, zusammen mit dem besprochenen Mangel einer systematisch-negativen Kontrolle in allen Studien lassen den Zweifel berechtigt erscheinen, dass es sich bei dem angebotenen Bild tatsächlich um ein Bild eines Masernvirus handelt. Erst eine morphologische Analyse der vielen Gestalten und eindeutige Charakterisierung, z.B. aufgrund immunologischer Verfahren und vor allem ein robuster Belegt, dass es sich nicht um Anzüchtungen aus den Zellkulturen handeln kann würden jeglichen Zweifel ausräumen.

Publikation Nr. 5

Horikami, S.M. & Moyer, S.A. (1995) Structure, transcription, and replication of measles virus. In: V. ter Meulen & M.A. Billeter (Eds) Measles Virus. Current Topics in Microbiology and Immunology 191 (pp. 35-50). Springer: New York, Heidelberg.

Diese Arbeit fast etwa 120 andere Arbeiten in einem Überblick zusammen und beschäftigt sich ausschließlich mit der Struktur der Virus-RNA, der Gen-Kodierung und entsprechenden Studien. Damit setzt sie die hier interessierende Fragestellung als beantwortet voraus und ist an sich für die hier interessierende Frage nicht von Belang. Sie zeigt allerdings: es hat sich ein sehr reichhaltiges Forschungsnetzwerk etabliert von Forschern, die offensichtlich alle unter dem Konsens arbeiten, die hier isolierten Viren seien in der Tat von Masern abgeleitet. Die Richtigkeit dieser Voraussetzung wird weder diskutiert noch problematisiert, sondern offenkundig vorausgesetzt. Damit wird die Faktizität untermauert. Ob sich in den Details der Ausführungen für Spezialisten erkennbar Hinweise darauf finden, dass Gensequenzen oder Verhalten von RNA für bestimmte Viren typisch ist oder nicht, dies festzustellen liegt außerhalb meiner Kompetenz. Es ist jedoch klar: über die Methode der Isolation des Virus selbst und die methodische Stichhaltigkeit dieses allerersten Schrittes ist in diesem Review nichts gesagt. Vielmehr wird dies als methodische Selbstverständlichkeit vorausgesetzt. Ob dies gegeben ist, ist aufgrund dieser und der vorher diskutierten Publikationen nicht feststellbar. Formal sollte vielleicht bedacht werden: auch wenn Springer ein sehr guter Verlag ist, werden solche Herausgeberwerke eher einem sanften Review unterzogen.

Publikation Nr 6.

Daikoku, E., Morita, C., Kohno, T. & Sano, K. (2007) Analysis of morphology and infectivity of measles virus particles. Bulletin of the Osaka Medical College, 53(2): 107-114.

Diese Studie analysierte Morphologie und Infektiosität des Masernvirus. Eingangs stellen die Autoren fest, dass verschiedene andere Studien zum Schluß gekommen seien, darunter auch oben besprochene, dass das infektiöse Agens polymorph sei und in verschiedenen Grössen zwischen 180 und 600 nm, bzw. 300 und 1000 nm beobachtet worden sei. Ausserdem sei die Auftrennbarkeit in drei Fraktionen berichtet worden. Diese wird hier weitergeführt. Es wird ebenfalls der Edmonstonstamm verwendet, ohne weitere Angaben zur Gewinnung. Damit werden verschiedene Zellen, u.a. von Affen, aber auch menschliche Zelllinien infiziert. Diese werden inkubiert und 7 Tage lang angezüchtet, bevor über Zentrifugation und Mikrofiltrierung infizierte Zellen gewonnen werden. Diese werden einer Elektronenmikroskopie, sowohl konventionell als auch mit immunologischer Markierung, unterzogen.

Es zeigen sich – wie in den anderen Studien auch – polymorphe Partikel, die als Masernviren bestimmt werden. Sie weisen Größen von 50nm bis 950 nm auf. Alle Partikel in jeder Größenformation sind infektiös. Die meisten Partikel haben eine Größe von 300 bis 500 nm und liegen damit im Bereich der von anderen beobachteten Größenordnung. Partikel lassen sich mit unterschiedlichen immunologischen Methoden markieren und zeigen damit unterschiedliche Feinstrukturen.

Methodische Bemerkungen und Kommentar:

Formal ist zu bemerken, dass es sich beim „Bulletin of the Osaka Medical College“ um ein eher peripheres Journal handelt, das im Moment noch nicht einmal mit einem Impact-Factor aufwarten kann. Sogar manche weitgehend auf Deutsch publizierende Journale wie „Der Schmerz“, „Der Psychotherapeut“ oder „Forschende Komplementärmedizin“ haben Impact-Faktoren, was zeigt, dass ihre Arbeiten von anderen Autoren zitiert werden. Die Selbstbeschreibung des Journals auf dessen Webseite legt nahe, dass kein Peer-Review stattfindet, sondern nur eine interne Prüfung. Das Journal dient vor allem Mitgliedern des Osaka Medical College dazu, ihre Befunde zu kommunizieren. Eine „hochrangige“ Publikation ist es also nicht, und man hätte eigentlich erwarten können, dass ein bahnbrechender Befund wie die klare elektronenmikroskopische Beschreibung in einem weiter verbreiteten Journal publiziert wird.

Die Studie ruht, wie alle anderen auch, auf der Akzeptanz und Gültigkeit der Extraktionsmethode.  Daher haben wir das gleiche Problem wie bei allen anderen Studien auch: die Gewinnung des Isolats folgt dem bekannten Schema. Hier ist sie noch kürzer dargestellt: „MeV, the Edmonston strain, was inoculated….“ (S. 108). Mit „MeV“ kurz für „measles virus“ und „the Edmonston strain“ wird die fachgebietsspezifische Forschungstradition bedient.

Wir sahen bei Publikation Nr. 3, dass auch hier die gleiche Wortwahl vorliegt und eine Referenz auf die ursprüngliche Studie von Enders & Peebles (1954) verwendet wurde, die hier unterbleibt. Man kann also davon ausgehen, dass wiederum entweder nach der gleichen Methode wie bei Enders & Peebles eine Virusanzüchtung erfolgte, oder, wahrscheinlicher, dass die infizierte Zelllinie von damals zur Gewinnung des Isolats verwendet wurde. Das bedeutet aber wiederum: alles, was seither geschehen und unterblieben ist, geschieht oder unterbleibt auch hier. Dabei kann es sich um das Einbringen und Weiterzüchten eines anderen Agens handeln, oder um die Weitervermehrung von Substanzen oder Agentien in den Zellkulturen. Da keine systematische negative Kontrolle gemacht worden ist, lässt sich dies auch hier nicht entscheiden. So überzeugend die Bilder und Analysen sind, und so suggestiv die Forschungstradition: es ist nicht auszuschließen, dass hier ein infektiöses Agens anderer Natur oder zelleigene Bestandteile aus der Masernkultur isoliert und dargestellt wurde. Die Kurzaussage „MeV, the Edmonston strain…“ lässt keine Entscheidung zu. Kontrollversuche werden nicht erwähnt.

Damit ist letztlich auch diese Studie für die Beantwortung der vorliegenden Frage nicht geeignet.

Diskussion und Konsequenzen

Was lernen wir aus dieser Situation? Ich fasse zusammen: keine der Studien führt eine wirklich solide negative Kontrolle durch, in der sichergestellt ist, dass nicht schon im Ausgangsmaterial, den Affennierenzellen bzw. in den HeLa-Zellen, das potenziell infektiöse Agens vorhanden ist. Sowohl die eingebrachten Agenzien selbst, oder diese in Interaktion mit dem Zellmaterial, oder dieses allein, oder alles zusammen mit dem Isolat aus dem erkrankten Gewebe könnten für die beobachteten Veränderungen verantwortlich sein.

In diesem Sinne scheint mir der Herausforderer, Dr. Lanka, recht zu haben: mit einer einzigen Studie wird nicht zu beweisen sein, dass es das Masernvirus gibt und mit einer von den hier vorgelegten schon gar nicht.

Warum aber dann der Konsens in der Wissenschaft, die sich ja offenkundig von einem solchen Unruhestifter wie Lanka in ihrem Geschäft gestört fühlt? Das sieht man am Gutachten von Prof. Podbielski, der darauf verweist, dass sich das Bild nur aus der Gesamtschau aller Befunde ergibt, auch der nicht in diesem Prozess diskutierten Studien.

Wissenschaft ist immer ein kumulativ-sozialer Prozess. Im Zuge der gesamten infektiologischen Theoriebildung entstand der Konsens, dass es sich bei Masern um einen infektiösen Prozess handeln muss. Irgendwie erwarteten alle, dass man so etwas wie ein Virus würde isolieren können. Also war die apriori-Erwartung hoch, dass eine Studie ein solches Ergebnis irgendwann würde haben müssen. Und so sieht die Gesamtheit der Forscher einigermaßen wohlwollend über die methodischen Schwächen der ersten Studien hinweg, auch wenn deren Autoren zur Vorsicht mahnen. Durch die Zitationstradition wird plötzlich Faktizität erzeugt, die auch – falls sie vorliegen würden – spätere negative Studien nicht mehr so einfach revidieren können.

Dies wurde kürzlich sehr eindrücklich an einem Beispiel gezeigt, in dem über Jahre hinweg eine falsche Theorie gestützt wurde, obwohl ausreichend negative Befunde vorlagen und zwar einfach deshalb, weil die mächtigsten Autoren die falsche Theorie stützten und negative Befunde systematisch unterschlugen. Es handelte sich um die Theorie, dass eine bestimmte Form von Myositis durch Amyloid-Ablagerungen verursacht wurde. Erst viele Publikationen später und nach sehr viel Aufwand zeigte sich zum einen, dass die Theorie falsch war,  und zum anderen, dass diese falsche Meinung dadurch zustande kam, dass durch Zitationsnetzwerke Fakten geschaffen worden waren.[18]

Diese Faktizität wird umso schwerer anzweifelbar, je länger sie tradiert wird und je länger sie von allen akzeptiert wird. Ja, aber: „es gibt doch all diese genetischen Untersuchungen, all diese elektronenmikroskopischen Untersuchungen!“ wird der Befürworter sagen. Richtig. Die Frage, die Lanka erhoben hat und die durchaus berechtigt erscheint ist: sind die allerersten Daten, auf die sich alle späteren Studien beziehen, wirklich so erhoben worden, dass sie zweifelsfrei nur das vermutete kausale Agens isolierten? Wie wir gesehen haben ist das nicht der Fall. In den ersten Studien – und keine der anderen vorgelegten Studien hat das Manko beseitigt – wurden keine negativen Kontrollen mitgeführt. Also konnten in den Affenzellen bereits vorhandene Agentien, das berühmte „foamy agent“, durch Interaktion entstandene Agentien, durch die Zusatzstoffe eingebrachte Agentien oder durch die Interaktion mit den HeLa-zellen entstandene Agentien oder eine Mischung davon für die beobachteten nachfolgenden Veränderungen verantwortlich sein. Da alle späteren Methoden und Studien sich offenbar auf diese ersten Studien stützen, scheint das Argument nicht ausgeräumt.

Es wäre auszuräumen, indem eine Studie vorgelegt wird, die das Problem beseitigt. Entweder die gibt es nicht, oder der Kläger hat sie nicht gefunden und nicht vorgelegt.

Das ist eine interessante Situation. Ich bin gespannt, wie das Gericht entscheidet. Eigentlich müsste jetzt aus meiner Sicht folgendes passieren:

Ein wirklich gutes Labor müsste die Isolation des vermuteten Masernvirus ganz neu durchführen und mit Hilfe von systematischen negativen Kontrollen eine Anzüchtung vornehmen, die zeigt, dass die begleitenden Prozeduren – Nährlösung, Zelleinbringung, Überführung in einen Zellstamm – nicht zu Infektiosität und den beobachteten Veränderungen führt und dann anschließend das Virus elektronenmikroskopisch und biochemisch charakterisieren. Diese Studie müsste vorher registriert werden und mit einer hochrangingen Zeitschrift die Publikation unabhängig vom Ergebnis vorher vereinbart werden.

Oder aber, ein kundiger Forscher sollte die Publikation aus den Akten ziehen, in der das passiert ist. Die vorgelegten Publikationen erledigen diese Aufgabe nicht. Wahrscheinlicher ist, dass alle zur Tagesordnung übergehen, denn das Infragestellen eines Konsenses, der fast schon ein halbes Jahrhundert währt, ist ziemlich kostspielig.

Der Masernvirenprozess kann vielleicht einen kleinen Anstoß zum Nachdenken geben. Richtig angestoßen wird der Diskurs erst, wenn ein wirklich gut situierter Virologe diese Herausforderung annimmt. Vielleicht sollte Herr Lanka sein Geld nehmen und in einem richtig guten Labor vorsprechen und dort eine solche Studie veranlassen? Vielleicht würde das helfen. Aber auch hier bin ich skeptisch. Denn: Wissenschaft ist sozial bedingt und unterliegt den gleichen Schwächen wie alle anderen sozialen Interaktionen. Und auch hier gilt: mit ausreichend viel Chuzpe und Hartnäckigkeit lässt sich die Mehrheitsmeinung in Frage stellen, wenn man bereit ist, die Prügel auszuhalten, die zunächst zu erwarten sind. Ob sich anschließend eine Änderung einstellt ist abhängig von zwei Faktoren:

  • ob man tatsächlich richtig liegt und sich herausstellt, dass sich die Mehrheit bislang getäuscht hat, und
  • ob man es schafft, einen Wortführer dazu zu bringen, diese Wahrheit auszusprechen, der ausreichend viele Ohren findet.

Wir dürfen gespannt sein. Wir wohnen im Moment einem historischen Prozess bei, bei dem Wahrheit verhandelt wird. Lanka hat mit seiner Herausforderung darauf hingewiesen, dass die konsensuelle Wahrheit weniger sicher ist, als sie scheint. Bardens hat mit seiner Antwort versucht, der Herausforderung zu begegnen. Die vorgelegten Studien, das zeigen die Analysen oben, sind weniger stark, als man meint. Dass damit nicht in Frage gestellt ist, dass Masern gefährlich sein können, dass Impfungen womöglich helfen, etc., all das ist damit gar nicht angesprochen. Zur Diskussion steht der Mehrheitskonsens, dass das, was bisher in der Wissenschaft geschah, ausreichend sei, um die Faktizität des Masernvirus zu belegen. Dies erscheint mir nach all dem, was ich bis jetzt gesehen habe, zweifelhaft zu sein. Angesichts des großen Replikationsproblems in der Medizin[19] und des daraus drohenden Zweifels in der Gesellschaft wäre es wahrscheinlich klug, wenn sich ein paar kompetente Forscher daran machen würden, diese Zweifel durch sorgfältige Replikationen auszuräumen. Ein für allemal. Oder aber die Bücher neu zu öffnen. Im Moment scheint mir beides möglich, aber noch lange nichts endgültig belegt.

Quellen und Hinweise
[1] Ausschreibung des Klein-Klein-Verlages v. 24.11.2011
[2] Dean, K. (2004). The role of methods in maintaining orthodox beliefs in health research. Social Science and Medicine, 58, 675-685.
[3] Die Debatte ist kompetent aufgearbeitet worden von einer Wissenschaftsjournalistin. Auch wenn nicht alles akkurat repräsentiert ist, so ist doch die historische Debatte von großem Belang: Teicholz, N. (2014). The Big Fat Surprise. Why Butter, Meat and Cheese Belong in a Healthy Diet. New York: Simon and Schuster. Ein Beispiel: die größte je durchgeführte randomisierte Studie zur Niedrig-Fett-Diät mit fast 50.000 Frauen über 7 Jahre zeigt, dass diese lange als Standard-Diät und als wissenschaftlich belegt ausgegebenen Ernährungsratschläge unbrauchbar sind, sowohl zur Gewichtsreduktion als auch zur Verhütung von Herzinfarkt: Beresford, S. A., Johnson, K. C., Ritenbaugh, C., Lasser, N. L., Snetselaar, L. G., Black, H. R., et al. (2006). Low-fat dietary pattern and risk of colorectal cancer: The women`s health initiative randomized controlled dietary modification trial. Journal of the American Medical Association, 295(6), 643-654. Howard, B. V., Manson, J. E., Stefanick, M. L., Beresford, S. A., Frank, G. R., Jones, B., et al. (2006). Low fat dietary pattern and weight change over 7 years: The Women’s Health Initiative dietary modification trial. Journal of the American Medical Association, 295(1), 39-49. Howard, B. V., van Horn, L., Hsia, J., Manson, J. E., Stefanick, M. L., Wassertheil-Smoller, S., et al. (2006). Low fat dietary pattern and risk of cardiovascular disease: The Women’s Health Initiative randomized controlled dietary modification trial. Journal of the American Medical Association, 295, 655-666.
[4] Hudson, L., & Jacot, B. (1986). The outsider in science: a selective review of evidence, with special reference to the Nobel prize. In C. Bagley & G. K. Verma (Eds.), Pesonality, Cognition, and Values (pp. 3-23). London: Macmillan.
[5] Oreskes, N., & Conway, E. M. (2012, orig. 2010). Merchants of Doubt: How a Handful of Scientists Obscured the Truth on Issues from Tobacco Smoke to Global Warming. London: Bloomsbury.
[6] Dies hat Gøtzsche für die pharmazeutische Industrie herausgearbeitet: Gøtzsche, P. C. (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma Has Corrupted Health Care. London: Radcliff.
[7] Sheldrake, R. (1998). Experimenter effects in scientific research: How widely are they neglected? Journal of Scientific Exploration, 12, 73-78.
[8] Rosenthal, R. (1976). Experimenter Effects in Behavioral Research (enlarged edition). New York: Irvington.
[9] Fleck, L. (1980). Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Mit einer Einleitung herausg. v. L. Schäfer und T. Schnelle. Frankfurt: Suhrkamp. (Original erschienen 1935).
[10] Walleczek, J., Shiu, E. C., & Hahn, G. M. (1999). Increase in raditiation-induced HPRT gene mutation frequency after nonthermal exposure to nonionizing 60Hz electromagnetic fields. Radiation Research, 151, 489-497.
[11] So hat etwa Stefan Baumgartner, der Forschung mit potenzierten, seriellen ultra-hoch verdünnten Substanzen an Pflanzen macht, alle seine Versuche grundsätzlich mit systematisch-negativen Kontrollen durchgeführt und die meisten Forscher auf diesem Gebiet haben es ihm gleich getan. Vgl. etwa Scherr, C., Simon, M., Spranger, J., & Baumgartner, S. (2009). Effects of potentised substances on growth rate of the water plant Lemna gibba L. Complementary Therapies in Medicine, 17, 63-70, oder Witt, C. M., Bluth, M., Albrecht, H., Weisshuhn, T. E. R., Baumgartner, S., & Willich, S. N. (2007). The in vitro evidence for an effect of high homeopathic potencies – A systematic review of the literature. Complementary Therapies in Medicine, 15, 128-138, die einen Überblick geben.
[12] Radin, D., Taft, R., & Yount, G. (2004). Effects of healing intention on cultured cells and truly random events. Journal of Alternative and Complementary Medicine, 10, 103-112. Taft, R., Moore, D., & Yount, G. (2005). Time-lapse analysis of potential cellular responsiveness to Johrei, a Japanese healing technique. BMC Complementary and Alternative Medicine, 5(1), 2. Yount, G., Smith, S., Avanozian, V., West, J., Moore, D., & Freinkel, A. (2004). Biofield perception: A series of pilot studies with cultured human cells. Journal of Alternative and Complementary Medicine, 10, 463-467.

[13] Allerdings werden die Kochschen Postulate mittlerweile so nicht mehr aufrechterhalten, weil man gesehen hat, dass sie viel zu mechanistisch sind. Allein schon diese Veränderung im historischen Kontext ist höchst interessant, zeigt sie doch, dass man implizit vom monokausalen Schema abgerückt ist, das man allerdings in der allgemeinen Wahrnehmung dadurch aufrechtzuerhalten sucht, dass man von „Erregern“, „causative agent“, etc. spricht.

[14] HeLa Zellen sind Zellkulturen aus dem Karzinom, an dem Henrietta Lacks 1951 gestorben ist und die seither angezüchtet und kommerziell erwerbbar sind.

[15] Das ist offenbar der Name des Jungen, von dem diese erste infektiöse Substanz gewonnen wurde.

[16] Fleck, L. (1980). Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Mit einer Einleitung herausg. v. L. Schäfer und T. Schnelle. Frankfurt: Suhrkamp. (Original erschienen 1935).

[17] Lynes, B. (2011, orig. 1987). The Cancer Cure That Worked! Fifty Years of Suppression. Lake Tahoe: Biomed Publishing.

Kevles, D. J. (1997). Pursuing the unpopular: A history of courge, viruses, and cancer. In R. B. Silver (Ed.), Hidden Histories of Science (pp. 69-112). London: Granta Books. Vor allem der letztere Text zeigt: jede spätere Mainstream-Theorie der Krebsforschung wurde zunächst als Aussenseitertheorie heftigst bekämpft, bevor sie akzeptiert wurde.

[18] Greenberg, S. A. (2009). How citation distortions create unfounded authority: analysis of a citation network. British Medical Journal, 339, b2680

[19] Horton, R. (2015). Offline: What is medicine’s 5 sigma? Lancet, 385, 1380