Immer wieder wird behauptet, die Komplementärmedizin sei nicht sonderlich wissenschaftlich, die konventionelle Medizin hingegen sei wissenschaftlich und gut belegt. Vor allem junge Blogger argumentieren manchmal so, aber auch Journalisten und Kolleginnen und Kollegen aus dem universitären Umfeld.
Das Adjektiv „wissenschaftlich“ wird in solchen Auseinandersetzungen meiner Beobachtung nach in mindestens drei Bedeutungen verwendet:
Fundamentalreligiös:
Mit „wissenschaftlich“ ist dann ein bestimmtes Weltbild gemeint, das bestimmte Grundannahmen einschließt, von denen man glaubt, sie seien unabdingbarer Teil der Wissenschaft. Überlegt man genauer, dann erkennt man relativ rasch, dass diese Grundannahmen aus bestimmten historischen Formen von Wissenschaft oder bestimmten Teildisziplinen von Wissenschaft entstanden sind – sie sind aber nicht Bestandteil von Wissenschaft schlechthin. Es handelt sich dabei um die Annahmen eines generellen Materialismus in dem Sinne, dass man davon ausgeht, einzig Materie sei wirklich, alles andere davon abgeleitet. Diese Aussage selbst ist eine philosophische oder religiöse, aber keine wissenschaftliche.
Häufig verwechseln Autoren die Voraussetzungen, die eine bestimmte Form von Wissenschaft macht – und machen muß –, mit den Ergebnissen und mit den Möglichkeiten von Wissenschaft schlechthin. Ob Komplementärmedizin in diesem Sinne „wissenschaftlich“ ist oder nicht, ist nicht geklärt. Man kann sicherlich eine materialistische Reduktion der meisten Behauptungen vornehmen, die in der Komplementärmedizin gemacht werden. Meistens entpuppt sich eine solche Verwendung des Begriffs „wissenschaftlich“ jedoch als krypto-religiös. Sie ist im eigentlichen Sinne szientistisch: Die Methode der Wissenschaft wird zu einer Weltanschauung erhoben. Bereits Husserl hat auf die Probleme und Gefahren eines solchen Vorgehens hingewiesen [1]. Man sollte sich jedenfalls klarmachen, dass eine solche Verwendung des Begriffs nichts mit Wissenschaft selbst zu tun hat.
Methodisch:
Man glaubt, Komplementärmedizin sei von der Methodik her nicht gut genug empirisch geprüft. Die Behauptung stützt sich darauf, dass moderne pharmakologische Interventionen schon aus Gründen der Zulassung durch Doppelblindstudien evaluiert werden müssen und daher eine vergleichsweise solide Datenbasis haben, jedenfalls im Durchschnitt und meistens. Dies ist bei komplementärmedizinischen Maßnahmen nicht immer so. Meist sind sie älter und traditionell überliefert und haben daher einen gewissen Vorsprung im Sinne einer allgemeinen „Erfahrungsmedizin“ und rechtlich einen anderen Status.
Dass auch diese Verfahren solide wissenschaftlich untersucht gehören, darüber sind sich die meisten Proponenten der Komplementärmedizin einig. Dies ist komplex, wie jeder weiß. Doch trotz der methodischen Schwierigkeiten ist zum Beispiel die Akupunktur bei Schmerzsyndromen vermutlich solider untersucht und wirksamer als viele pharmakologische oder andere Interventionen [2,3]. Eine aktuelle Analyse der Datenbasis der kardiologischen Leitlinien sagt, dass im Median nur 11% gut belegt sind [4], und in der Onkologie sind es gar nur knapp 7% [5]. Ich vermute: Wenn man ganz unvoreingenommen prüfen würde, wäre es um die „Wissenschaftlichkeit“ der Komplementärmedizin im methodischen Sinne gar nicht so schlecht bestellt.
Sozial:
Häufig ist mit „unwissenschaftlich“ „den Konsens der Mehrheit der Fachleute verletzend“ gemeint. Auch wenn das selten explizit erwähnt wird, so schwingt diese Bedeutung meistens mit. Das ist in gewisser Weise sinnvoll, denn die soziale Dimension ist auch in der Wissenschaft wichtig. So ziehen Wissenschaftsjournalisten bei ihren Artikeln häufig „Gewährsleute“ für Wissenschaftlichkeit zum Beleg ihrer Meinungen oder Interpretationen heran. „Wissenschaftlichkeit“ wird dann durch den Stellvertreterparameter „Prominenz“ in der wissenschaftlichen Gemeinschaft oder Ähnliches definiert, ein soziales Kriterium also.
Der Operationalisierung eines solchen sozialen Kriteriums will ich mich nun zuwenden und fragen: Stimmt es, dass in diesem sozialen Sinne Komplementärmedizin „unwissenschaftlich“, also sozial wenig rezipiert und respektiert ist? Ich stütze mich dabei auf die internationale Gemeinschaft, denn sie ist der Referenzpunkt.
Der Hirsch-Faktor als szientometrischer Index
Eine einfache, approximative und vielleicht auch etwas oberflächliche Methode ist die, einen szientometrischen Index zu befragen, den sogenannten „Hirsch-Index“ [6]. Dieser Index ist eine dimensionslose Zahl, die angibt, wie häufig, im Verhältnis zur Zahl der Publikationen, die Arbeit eines Wissenschaftlers von anderen Wissenschaftlern weltweit aufgegriffen wird. Sie verrechnet sozusagen die Produktivität eines Autors mit seiner Resonanz in der Gemeinschaft. Wer viel schreibt, aber nicht gelesen wird, hat genauso einen relativ niedrigen Hirsch-Faktor wie jener, der relativ wenig schreibt und mittelmäßig rezipiert wird. Sein Einfluss bleibt marginal. Jemand, der nur sehr wenig schreibt, das aber in viel gelesenen und zitierten Zeitschriften wie „Science“ und „Nature“ erscheint, hat dagegen einen relativ hohen Hirsch-Faktor. Dasselbe kann man auch erreichen, wenn man viel schreibt, das mittelmäßig oft aufgegriffen wird.
Außerdem sieht man an der Zitationshäufigkeit, welches Gebiet und welches Thema im Moment „heiß“ ist, also worum sich auch viele andere Forscher kümmern. Denn wenn jemand z.B. an der Bedeutung bestimmter Phrasierungen in akkadischen Texten des 2. Jahrtausends v. Chr. forscht, wird er, auch wenn er extrem gut und sorgfältig arbeitet, vielleicht eine kleine Gruppe von weltweit vielleicht 50 Spezialisten erreichen. Damit ist seine maximale Reichweite immer beschränkt. Insofern ist der Hirsch-Faktor natürlich auch ein sehr grobes Maß sozialer Integration. Er bildet Spezial- und Randgebiete nicht gut ab. Daher kann man auch auf Gebieten, auf denen viele arbeiten, auf denen es viel Neues gibt und viel Durchsatz, viel rascher zu Ehren kommen als auf anderen. Die Wissenschaft ist ein großes Gedränge. Jeder will gehört werden, jeder will vorne sein, alle wollen Preise, jeder hält seine Arbeit für die wichtigste. Im Hirsch-Faktor bildet sich das Selbstorganisationsbestreben der sozialen Gemeinschaft der Wissenschaft ab. Was die anderen interessiert, was ihnen nützlich vorkommt, was sie spannend und vernünftig finden, das zitieren sie. Das andere versinkt in den Archiven und Datenbanken. Diese soziale Aufmerksamkeit ist nicht immer ohne Verzerrung. Im Gegenteil, die Vorlieben und Abneigungen spiegeln sich darin. Dennoch ist die Analyse des Hirsch-Faktors nützlich.
Daher habe ich mir erlaubt, diese Fingerübung einmal mit Forschern aus der komplementärmedizinischen Szene zu machen und mit solchen, die von Journalisten gerne und oft als Kritiker und als Gewährsleute herangezogen werden bzw. sich selber als solche in ihren Blogs stilisieren. Ich habe dazu ein frei verfügbares Programm verwendet, das mit verschiedenen Online-Datenbanken zusammenarbeiten kann (http://www.harzing.com). Das Programm arbeitet mit Google-Scholar. Das ist insofern fair, weil es das Nutzungsverhalten der „Community“ gut spiegelt und weil sich hier eine breitere Datenbasis sammelt als in den weniger gut zugänglichen Zitierindizes der Verlage [7]. Außerdem hat diese Analyse den Vorteil, dass sie von jedem leicht repliziert, erweitert oder aktualisiert werden kann.
Ich gehe folgendermaßen vor: Ich stelle in einer Tabelle die Kennwerte einiger prominenter „Skeptiker“ vor, die gerne von sich behaupten, sie seien „wissenschaftlich“. Sie positionieren sich auch gerne in der Öffentlichkeit als die Stimme der Wissenschaft. Dann stelle ich einige Vertreter der Mainstream-Wissenschaft vor, die mir über alle Zweifel erhaben scheinen, weil sie a) gute Positionen inne haben (z.B. Leiter von Max-Planck Instituten, Professoren); b) innerhalb ihrer Gemeinschaft eine Art Führungsposition innehaben (z.B. Leiter und Gründer von wissenschaftlichen Fachgesellschaften oder Institutionen, prominente Position in der Öffentlichkeit; Klinikumsdirektor); und c) für Gebiete stehen, die allgemein als wichtig und „wissenschaftlich“ gesehen werden (Hirnforschung, Philosophie des Geistes, Medizin). Ich gehe dabei auch pragmatisch vor insofern, als ich Namen wähle, die nicht doppelt oder öfter vorkommen, damit es keine Überschneidungen gibt. Und ich wähle Namen von Personen, die ich kenne bzw. von denen ich weiß, dass sie prominent sind. Diese Auswahl ist sicherlich subjektiv und dient eigentlich nur der „Eichung“ der Befunde. Schließlich stelle ich in einer dritten Tabelle prominente Vertreter der komplementärmedizinischen Forschung vor.
Tab. 1 – Hirsch Faktor einiger prominenter „Skeptiker“ oder Gewährsleuten von „skeptischen“ Journalisten
Name | Hirsch Faktor | Anzahl Publikationen | Anzahl Jahre | Anzahl Zitationen |
Jürgen Windeler | 13 | 90 | 29 | 1042 |
Ulrich Berger | 6 | 12 | 14 | 170 |
Martin Lambeck | 3 | 11 | 49 | 58 |
Florian Freistetter | 4 | 15 | 13 | 54 |
Tab. 2 – Hirsch-Faktor einiger prominenter deutscher und internationaler „Mainstream-Forscher“
Name | Hirsch Faktor | Anzahl Publikationen | Anzahl Jahre | Anzahl Zitationen |
Tania Singer | 27 | 81 | 20 | 5581 |
Karl Max Einhäupl | 15 | 23 | 27 | 928 |
Thomas Metzinger | 21 | 134 | 31 | 2945 |
Daniel Kahnemann | 105 | 448 | 51 | 148’244 |
Volker Sommer | 22 | 180 | 27 | 1’259 |
Franz Daschner | 30 | 116 | 38 | 2561 |
Hans Christoph Diener | 55 | 489 | 38 | 16’322 |
John P.A. Ioannidis | 67 | 364 | 17 | 22’475 |
Sonu Shamdasani | 11 | 76 | 23 | 735 |
Tab. 3 – Hirsch-Faktor einiger prominenter komplementärmedizinischer Forscher und Autoren
Name | Hirsch Faktor | Anzahl Publikationen | Anzahl Jahre | Anzahl Zitationen |
George Lewith | 21 | 154 | 32 | 2004 |
Aviad Haramati | 19 | 76 | 33 | 1193 |
Claudia Witt | 25 | 169 | 22 | 3266 |
Andreas Michalsen | 20 | 90 | 21 | 1204 |
Benno Brinkhaus | 22 | 72 | 16 | 2643 |
Gustav Dobos | 23 | 131 | 27 | 1684 |
Wayne B. Jonas | 31 | 173 | 22 | 4739 |
Dieter Melchart | 26 | 169 | 33 | 5007 |
Harald Walach | 29 | 283 | 26 | 4210 |
Man sieht an diesen Daten sehr rasch:
Die soziale Dimension der Wissenschaft zeigt klar, dass die „Skeptiker“, die sich gern als Epithet der Wissenschaft in der Öffentlichkeit positionieren eigentlich, wissenschaftlich-sozial gesehen, randständige Figuren sind. Die Varianz der Rezeption von Mainstream-Wissenschaft ist riesig. Ein Autor wie Daniel Kahnemann, Psychologe und Nobelpreisträger für Ökonomie wird enorm rezipiert und hat daher auch einen großen Hirsch-Faktor von über 100. Aber auch ein hoch-angesehener Mainstream-Wissenschaftler wie mein Freund und Kollege Volker Sommer, der ein bekannter Evolutionsbiologe ist, eine Professur am University-College London für evolutionäre Anthropologie hat und gleichzeitig in der Universitätsleitung für Forschungsstrategie zuständig ist, hat einen Hirsch-Faktor im mittleren Bereich. Ein andere Freund von mir, der international hoch renommierte C. G. Jung-Forscher Sonu Shamdasani, ebenfalls Professor am University College London, aber repräsentativ für eine eher kleine Community von Medizin-Historikern erreicht einen H-Faktor von 11, was zeigt, dass die Zahl sehr relativ ist, je nachdem, in welchem Gebiet man tätig ist. Mein ehemaliger Chef, Mentor und Förderer Franz Daschner, ehemaliger Institutsleiter in Freiburg mit viel Ansehen, Preisen und weitem internationalem Renommee, hat im Laufe seiner langen Karriere einen Hirsch-Faktor von 30 erreicht. Das übersteigt den Wert des derzeitigen Chefs der Charité, Max Einhäupls, um einiges. Ein prominenter Neurologe wie Diener kann diese Werte überbieten. Andere, wie Tania Singer, die noch junge Leiterin des Max-Planck Instituts für „Social Neuroscience“ in Leipzig, oder der Philosoph Thomas Metzinger liegen in einem Bereich, der durchaus allgemeine internationale Anerkennung und Rezeption signalisiert. John Ioannidis wurde von mir gewählt, weil er eine Art Leuchtrakete am Methodenhimmel darstellt. Er hat enorm weit berücksichtigte Arbeiten verfaßt, die viel zitiert und aufgegriffen werden. Ein H-Faktor von 67 signalisiert dies.
Vergleicht man die Werte prominenter Skeptiker mit diesen Daten, so muß man klar sagen: die Skeptiker mögen von sich selber denken, dass sie „die Wissenschaft“ repräsentieren. Faktisch wird das, was sie tun und publizieren, wenig rezipiert. Noch hat es nennenswerte Resonanz in der Wissenschaft.
Da stehen prominente Vertreter der Komplementärmedizin um Längen besser da. Dies belegt, was schon öfter gesagt wurde: die Komplementärmedizin ist im Mainstream angekommen [8]. Die Werte unterscheiden sich innerhalb der Szene nicht groß und liegen zwischen 20 und 30, genau in dem Bereich, in dem wir auch diejenigen von international respektierten Mainstream-Forschern finden. Die Werte deutscher komplementärmedizinischer Forscher liegen auch im internationalen Vergleich gut: Ich habe zwei Vergleichswerte angeführt, den von Wayne Jonas, dem ehemaligen Leiter des Office of Alternative Medicine und jetzigen Direktors des Samueli Instituts, und den von Aviad Haramati, des Leiters des Consortiums der US-amerikanischen Institutionen und Kursleiters an der renommierten Georgetown University in Washington.
Die deutschen Kollegen müssen sich nicht verstecken. Sie müssen sich auch nicht vor ihren Kollegen aus dem Mainstream verstecken, und schon gar nicht vor denen, die als Kritiker gerne behaupten, sie würden „Wissenschaftlichkeit“ repräsentieren. Wenn man sich anschaut, wie Wissenschaft tatsächlich funktioniert, erscheint das Selbstverständnis der „Skeptiker“ als pure Illusion und Selbsttäuschung. Anscheinend hilft der angeblich so kritische Geist wenig, um bis zur Selbstkritik vorzustoßen.
Wenn wir also „wissenschaftlich“ pragmatisch definieren, sozial und so, wie Wissenschaft funktioniert, können wir konstatieren: Komplementärmedizin ist wissenschaftlicher als manches, was sich gerne als Wissenschaft versteht und verkauft wird. Komplementärmedizin ist Wissenschaft. Das mag manche ärgern. Aber wie ich hier gezeigt habe, ist es objektiv belegbar.
Quellen und Literatur
- Husserl E: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Philosophie. Hamburg, Meiner, 1977.
- Vickers AJ, Cronin AM, Maschino AC, Lewith GL, MacPherson H, Foster NE, Sherman KJ, Witt CM, Linde K, Collaboratoin ftAT: Acupuncture for chronic pain: Individual patient data meta-analysis. Archives of Internal Medicine 2012;online first.
- Savigny P, Kuntze S, Watson P, Underwood M, Ritchie G, Cotterell M, Hill D, Browne N, Buchanan E, Coffey P, Dixon P, Drummond C, Flanagan M, Greenough C, Griffiths M, Halliday-Bell J, Hettinga D, Vogel S, Walsh D: Low Back Pain: early management of persistent non-specific low back pain. London, National Collaborating Centre for Primary Care and Royal College of General Practitioners, 2009.
- Tricocci P, Allen JM, Kramer JM, Califf RM, Smith Jr SC: Scientific evidence underlying the ACC/AHA clinical practice guidelines. Journal of the American Medical Association 2009;301:831-841.
- Poonacha TK, Go RS: Level of scientific evidence underlying recommendations arising from the National Comprehensive Cancer Network clinical practice guidelines. Journal of Clinical Oncology 2010;29:186-191.
- Sidiropoulos A, Katsaros D, Manolopoulos Y: Generalized Hirsch h-index for disclosing latent facts in citation networks. Scientometrics 2007;72:253-280.
- Larsen PO, von Ins M: The rate of growth in scientific publication and the decline in coverage provided by Science Citation Index. Scientometrics 2010;84:575-603.
- Brodin Danell J-A, Danell R: Publication activity in complementary and alternative medicine. Scientometrics 2009;80:539-551.