Qualitätssicherung im Gesundheitswesen: Der Leitlinien- und Kontrollwahn – und andere Blüten vom European Congress of Integrative Medicine

Wohin der Irrwitz der Qualitätssicherung führt, wenn er aufs Gesundheitswesen übergreift, und zwar dann, wenn er gepaart wird mit einer Sparmentalität, die gleichzeitig Ressourcen beschneidet ist mir in zweifacher Hinsicht auf dem eben zu Ende gegangenen European Congress for Integrative Medicine [www.ecim-congress.org] in Berlin klar geworden.

Qualitätssicherung hat ohne Frage einige positive Aspekte: man weiß, wen man anmeckern muß, wenn was nicht geklappt hat; man hat eine Reihe hübscher Ordner im Büro stehen; man hat sich viel Gedanken gemacht, wie man Prozesse optimieren kann – und manches davon wird vermutlich sogar umgesetzt. Außerdem hat man aus dem Nichts eine ganze Reihe Stellen in den tertiären Zirkeln der Schattenwirtschaft geschaffen, dem Dienstleistungssektor.

Mittlerweile ist es so weit, dass man ohne Qualitätssicherung bald nicht mehr existieren darf…

Ich finde sogar, daß Qualitätssicherung die geniale Kunst war, so ähnlich wie seinerzeit die Einführung von Mobiltelefonen, der ganzen vermeintlich zivilisierten Menschheit etwas als nötig zu verkaufen, von dem sie bis anhin weder gewusst hat, dass es existiert und noch weniger, dass es tatsächlich nötig ist. Mittlerweile ist es sogar so weit, dass man ohne Qualitätssicherung bald nicht mehr existieren darf, mindestens, wenn man Produkte oder Dienstleistungen an andere vertreibt, egal ob um Geld oder um Gotteslohn.

Richtig konfrontiert wurde ich persönlich mit Qualitätssicherung – ja, es stimmt schon, ein wohlwollender Stern wacht offenbar über meinem Leben – erst mit ungefähr 48 Jahren, als ich in England eine Professur bekleidete. Dort lernte ich dann, dass es vor allem wichtig war Formulare auszufüllen und dass Gespräche mit Doktoranden, die nicht protokolliert und zeitkodiert waren, sozusagen verschleudertes Geld und vertane Müh‘ waren.

Qualitätssicherungszielsteuerungsnachforschungsprojekt

Als ich dann darüber nachdachte, wohin diese ganzen Formulare denn wandern, wer die Protokolle eigentlich alle liest, die da so anfallen, und welche Konsequenzen daraus erwachsen, begann ich, dies zu meinem privaten Forschungsprojekt zu machen. (Ein anderes derartiges privates Projekt war die Frage, ob die englischen Frauen, die im Winter ohne Strümpfe rumlaufen nicht frieren, oder ob es ihnen egal ist, aber weil ich mich meistens nicht getraute, nachzufragen, ist jenes Forschungsprojekt bis heute unabgeschlossen geblieben.)

Das Qualitätssicherungszielsteuerungsnachforschungsprojekt –ein Wortungetüm, das so ungefähr sprachlich nachvollziehen lässt, wie sich dieses ganze Programm anfühlt – ist hingegen einigermaßen abgeschlossen. Ich habe seinerzeit darüber einen Artikel in „Forschung und Lehre“ veröffentlicht [1] [http://www.forschung-und-lehre.de/wordpress/?p=1547], der es sogar in den Almanach des Hochschulverbandes geschafft hat. So sehr habe ich damit einen Nerv getroffen [2].

England ist das Ursprungsland einer überbordenden Bürokratie, die völlig ziellos ist und nirgendwohin führt, außer in den privaten Wahnsinn.

Was ich herausgefunden habe war: in England, mindestens in dem Bereich, den ich überblicken konnte, endet die unzählige Reihe von Protokollen, QA (Quality Assurance)-Dokumenten und anderen Laufzetteln des Managements in einer Reihe Ordner, die irgendwo in der Verwaltung stehen. Und dort bleiben sie dann, einfach für den Fall. Dass mal wer was nachschauen wollte. Oder einer von der Ober-QA-Behörde kommt und sie sehen will.

England ist das Ursprungsland einer überbordenden Bürokratie, die völlig ziellos ist und nirgendwohin führt, außer in den privaten Wahnsinn. Das Sympathische an den Engländern ist, dass sie sich über ihren eigenen Bürokratismus häufig non-chalant hinwegsetzen. Dennoch bleibt, so meine damalige Analyse: Qualitätssicherung ist eine neue Religion. Es ist die Religion (und Illusion) der vollständigen Technisierung und Kontrolle aller menschlichen Prozesse, die irgendwo im Wertschöpfungsprozess eine Rolle spielen.

Qualitätssicherung ist die Illusion der vollständigen Kontrolle aller menschlichen Prozesse, die irgendwo im Wertschöpfungsprozess eine Rolle spielen.

Wohin dieser Irrwitz führt, wenn er aufs Gesundheitswesen übergreift, und zwar dann, wenn er gepaart wird mit einer Sparmentalität, die gleichzeitig Ressourcen beschneidet – diese Einschränkung ist wichtig, denn dass man Qualität verbessern kann, daran gibt es keinen Zweifel; die Frage ist nur wie – das ist mir in zweifacher Hinsicht auf dem eben zu Ende gegangenen European Congress for Integrative Medicine [www.ecim-congress.org] in Berlin klar geworden.

Mein Freund und Kollege George Lewith aus Southampton hatte einen Hauptvortrag über seine Überblicksarbeit über chiropraktische Interventionen für kleinkindliche Koliken vorgelegt. Sie ist ausgelöst worden durch die Behauptung, die Singh und Ernst vor einigen Jahren erhoben hatten, dass Chiropraktik gefährlich ist, dass es keine Daten dafür gäbe, dass sie wirksam sei und dass sie gefährliche Nebenwirkungen habe, speziell wenn sie bei Kindern angewendet würde. Die Chiropraktiker hatten den Wissenschaftsjournalisten Singh damals wegen Verleumdung verklagt und recht erhalten. George Lewith hatte dem Gericht die Expertise geliefert und nun seine Analyse auf Kinder ausgedehnt.

Kurz gefasst: Die Intervention wirkt sogar ziemlich stark, etwa eine Standardabweichung war der Effekt groß. Die Kinder schreien kürzer und weniger. Und die Durchforstung der Literatur nach gefährlichen Nebenwirkungen hatte keinen, wortwörtlich: nicht einen, Fall zu Tage gefördert, der von Nebenwirkungen, geschweige denn gefährlichen, berichtet hätte. Die Aufregung war seinerzeit dadurch entstanden, dass eine unqualifizierte Person einer zart gebauten Frau über den Rücken gelaufen ist und ihr dabei das Genick gebrochen hat. Die Presse hatte das ganze dann zu „tödlicher Nebenwirkung chiropraktischer Intervention“ aufgebauscht.

Die Durchforstung der Literatur nach gefährlichen Nebenwirkungen von Chiropraktik hatte nicht einen einzigen Fall zu Tage gefördert, der von Nebenwirkungen, geschweige denn gefährlichen, berichtet hätte.

George Lewith war mit seiner Präsentation frühzeitig fertig und benützte den Rest seiner Zeit, das Auditorium auf einen Skandal aufmerksam zu machen, der die englische Öffentlichkeit seit einer Weile beschäftigt. Ausgehend vom North Staffordshire NHS Hospital – und vermutlich noch eine ganze Reihe anderer Krankenhäuser betreffend – hat sich das Bewusstsein für einen Behandlungsnotstand in englischen Kliniken verbreitet. Dort waren Ende der 90er Jahre gehäufte Todesfälle aufgetreten. Es dauerte lang, bis alles untersucht wurde. Am 6. Februar 2013 legte der damit beauftragte öffentliche Untersucher, Robert Francis, seinen Bericht vor (http://www.midstaffspublicinquiry.com/); sogar eine Wikipedia-Seite gibt es darüber (http://en.wikipedia.org/wiki/Stafford_Hospital_scandal).

Kurz gesagt hatte sich folgendes abgespielt: die unheilige Dreifaltigkeit aus Einsparungen an Personal, striktem Management (die Einsparungen betrafen selbstverständlich nicht das Management, das in England sehr hohe Gehälter bezieht; etwa das Doppelte bis Dreifache eines Arztes und das Vielfache einer Krankenschwester) und hoher bürokratischer Last aus der Erfüllung vieler QA-Vorgaben hatte zu einem „breakdown of empathy and compassion“ geführt, wie George Lewith sich ausdrückte. Die professionelle Fürsorge der Krankenschwestern, ihr Mitgefühl und ihr Wohlwollen gegenüber ihren Patienten, wich Zynismus und Indifferenz. Durch den Spardruck wurde Personal abgebaut.

Hoher bürokratische Last aus der Erfüllung vieler QA-Vorgaben hatte beim Personal zu einem „breakdown of empathy and compassion“ geführt, wie George Lewith sich ausdrückte.

Das noch vorhandene Personal verwand immer mehr Zeit darauf, in Formularen die Anwendung von Leitlinien zu bestätigen, Zeit, die die Krankenschwestern und Ärzte nicht mehr hatten, um sie für ihre Patienten zu verwenden. Es begann sich normal anzufühlen, dass die Patienten in ihren Exkrementen lagen. Krankenhaus-Infektionen, sog. „nosokomiale Infektionen“, die in der Regel von multiresistenten Keimen ausgelöst werden, die sich fast nur in Krankenhäusern finden, weil die Keime dort natürlich unter besonderem antibiotischem Druck stehen, breiteten sich rasend schnell aus.

In der Tat ist England das Land in Europa, das zusammen mit Spanien die höchsten Raten an Todesfällen hat, die durch multiresistente Keime ausgelöst werden; das ist eines der vielen Dinge, die ich bei meinem alten Chef Franz Daschner an der Uniklinik in Freiburg gelernt habe. Und gegen solche Keime, das ist ihre Definition, helfen keine Antibiotika mehr. Wenn der Organismus zu schwach ist, sterben die Menschen. Und so haben sich über drei Jahre etwa 1.500 unnötige und vermeidbare Todesfälle angesammelt, allein in diesem Krankenhaus. Hochrechnungen auf andere Häuser und Todesfälle gehen davon aus, dass es mehr als 10.000 solcher Todesfälle sein könnten, sagte George Lewith.

Interessanterweise scheint die Kommission nicht gemerkt zu haben, dass es ein simples Heilmittel für die Katastrophe gegeben hätte: mehr Personal und weniger bürokratische Zeitfresser.

Schließlich wurde die eben erwähnte Francis-Kommission einberufen. Diese wälzte über eine Million (106) Seiten Dokumente, hörte unzählige Zeugen, kostete den Steuerzahler 13 Millionen Pfund, um festzustellen, dass es in der Tat diese Missstände gab. Interessanterweise scheint die Kommission nicht gemerkt zu haben, dass es ein simples Heilmittel für die Katastrophe gegeben hätte: mehr Personal und damit ein Verhältnis von etwa 10 Patienten auf eine Schwester und weniger bürokratische Zeitfresser. Stattdessen will sie mit Straftatbeständen, Micromanagement, Kriminalisierung und leistungsbezogenen Löhnen das Problem in den Griff kriegen. Mehr des Gleichen also.

Man muß sich das mal ausrechnen, wieviele Krankenschwestern und Ärzte man für dieses Geld hätte anstellen können. Geht man davon aus, dass eine Krankenschwester in England etwa 30.000 Pfund und ein Arzt vielleicht 60.000 oder so verdient, dann kann man für 100.000 Pfund ein Arzt-Schwester-Team ein Jahr lang bezahlen. Macht 10 solcher Teams für ein Jahr, und dreizehn solcher Extra-Teams über 13 Jahre. Hätte man das Geld vorher in Personal investiert, wäre vermutlich das Problem gar nie aufgetaucht, das man dann mit großer Mühe beheben mußte. Man sollte der Vollständigkeit halber noch erwähnen, dass anscheinend keiner der Manager zur Verantwortung gezogen wurde. Einer wurde bei vollem Gehalt vom Dienst beurlaubt, eine andere durfte in die höhere Qualitätssicherungsbehörde aufsteigen. Die Öffentlichkeit spuckte Galle, das System macht weiter wie bisher.

Hätte man das Geld vorher in Personal investiert, wäre vermutlich das Problem gar nie aufgetaucht, das man dann mit großer Mühe beheben mußte.

In keinem Land der Welt gibt es so viele Leitlinien wie in England. Eine kritische Analyse im BMJ zeigte: es gibt mehr als 4.000 Leitlinien; in drei Londoner Krankenhäusern fanden sich zwischen 192 und 457 Leitlinien auf dem Intranet. Allein bei der Behandlung eines Oberschenkelhalsbruches bei einer älteren Person muss sich ein Arzt mit etwa 75 Leitlinien auseinander setzen, die sich teilweise widersprechen. Gleichzeitig beklagt sich das Personal, dass sie die entsprechenden Informationen nicht finden und viel Zeit mit Suchen verbringen [3].

Allein bei der Behandlung eines Oberschenkelhalsbruches bei einer älteren Person muss sich ein Arzt mit etwa 75 Leitlinien auseinander setzen, die sich teilweise widersprechen.

Was sieht man daran? Der Versuch, Qualität zu verankern durch das vermeintlich verbindliche Feststellen der vermeintlich besten Behandlungsmöglichkeit nach vermeintlich bester wissenschaftlicher Informationslage führt bestenfalls zu einer Scheinsicherheit, allenfalls zu einer juristischen Sicherheit, aber im schlimmsten Fall ins Chaos. Diese Art der Qualitätssicherung kann menschliche Qualitäten nie und nimmer ersetzen. Was nötig wäre, wäre Herzens-, Geistes- und Charakterbildung.

Wie das geht, das hat ein weiterer Hauptredner vorgemacht: Prof. Aviad Haramati, der an der renommierten Georgetown-University in Washington das Integrative Medicine Program leitet. Das ist ein auch in den USA einmaliger Studiengang [http://camprogram.georgetown.edu/]. Er ist, anders als der von uns angebotene KWKM, ein undergraduate course und richtet sich an junge Studierende, bevor sie in die „Medical School“ kommen, also bevor sie in den postgradualen, klinischen Teil der medizinischen Ausbildung kommen, und nachdem sie die Grundlagenausbildung abgeschlossen haben. Teil dieses Kurses sind Einsichten in neuere, ganzheitliche Auffassung des Menschen, die aus der Biologie kommen, Systembiologie etwa, Forschungsmethodik und andere Fächer.

In den USA lernen Studenten Methoden der Bewusstseinsschulung – Entspannung, Meditation, Imagination – und des emotionalen Ausdrucks – geduldiges Zuhören in der Gruppe, unvoreingenommenes Achten auf ihre Gefühle und ihre Mitteilung.

Aber auch ein Kurs in „Spirituality and Mindfulness“. Daran nehmen 10 Studierende und 2 Mitglieder des Lehrkörpers teil. Sie lernen Methoden der Bewusstseinsschulung – Entspannung, Meditation, Imagination – und des emotionalen Ausdrucks – geduldiges Zuhören in der Gruppe, unvoreingenommenes Achten auf ihre Gefühle und ihre Mitteilung. Seit einigen Jahren wird der Kurs evaluiert. Die Veränderungen, die sich zeigen – mittlerweile von mehr als einhundert Teilnehmern – , sind sehr groß und ermutigend. Die Rückmeldungen und die Nachfrage nach diesem Kurs ist überwältigend. Aviad Haramati hat mir einmal gesagt, dass sie jeden dieser Studienplätze, der etwa 30.000 Dollar kostet, zehnfach besetzen könnten, so groß ist die Nachfrage.

Es gelingt der normalen medizinischen Ausbildung bisher nicht, auch jene Fähigkeiten zu vermitteln, die vielleicht sogar noch wichtiger sind als Fachwissen: Einfühlungsvermögen, Menschlichkeit, Verständnis und die Fähigkeit zuzuhören.

Was sagt uns nun das? Zum einen gelingt es der normalen medizinischen Ausbildung nicht, genau jene Fähigkeiten, „Softskills“ auf Denglisch, zu vermitteln, die vielleicht sogar noch wichtiger sind als Fachwissen: Einfühlungsvermögen, Menschlichkeit, Verständnis und die Fähigkeit zuzuhören.

Aber auch die Fähigkeit der Helfer, für sich selbst zu sorgen und damit vor dem drohenden Ausbrennen [4] geschützt zu sein, das vermutlich am Grunde der Misere im North-Staffordshire-Hospital und anderswo ist, wird nirgendwo gelehrt.

Das Journal of the American Medical Association hatte schon vor einer ganzen Weile auf das drohende Problem des Burn-Out bei Ärzten und die mögliche Therapie durch Achtsamkeitstraining hingewiesen [4] [http://blogs.psychcentral.com/mindfulness/discuss/3432/].

Es ist eigentlich tragisch, dass die Studierenden das, was sie als psychologisches Handwerkszeug für ihre Arbeit benötigen nicht dort bekommen, wo sie ausgebildet werden, sondern sich in eigenen Kursen extra holen müssen.

Einstein zitierend, der gesagt haben soll, man müsse ein Problem auf einer anderen Ebene lösen, als auf der, auf der es entstanden ist, fordert Beian Berman eine menschlichere, integrative Medizin ein.

Genau das macht auch Brian Berman, der eines der ersten Zentren für integrative Medizin an einer hochkarätigen amerikanischen Medical School, nämlich der in Baltimore, Maryland gegründet hat und seither erfolgreich leitet [http://www.compmed.umm.edu/default.asp]. Er hat in seinem Beitrag darauf hingewiesen, wie wichtig diese psychologischen Fähigkeiten sind. Wie wichtig für die Profession insgesamt, die eigentlich hoch empathische und motivierte junge Menschen an die Hochschulen holt, um sie dann ihrer Empathie beraubt und angefüllt mit viel Fachwissen nach einigen Jahren wieder auszuspucken, ein Prozess, der in einer klassischen Studie als „hardening of the heart“ bezeichnet wurde [5]. Einstein zitierend, der gesagt haben soll, man müsse ein Problem auf einer anderen Ebene lösen, als auf der, auf der es entstanden ist, forderte Berman eine menschlichere, integrative Medizin ein.

Wir stünden an einer klassischen Wegkreuzung: entweder weiter so mit der Technisierung, vertrauend auf die kühle Rationalität der Optimierung, der Analyse, des logischen Kalküls, das uns auch die Qualitätssicherung beschert, oder auf eine ganzheitliche, integrative, menschliche Rationalität zu, in der Vernunft und Herz, Wissen und Intuition nicht im Gegensatz stehen. Dafür steht die integrative Medizin. Und es wird Zeit, finde ich, dass sich die Intellektuellen hierzulande, die Wissenschaftsjournalisten und Fakultäten, von der in den Köpfen vorherrschenden Dichotomie verabschieden.

North Staffordshire sollte allen eine Lehre sein. Und die erfolgreichen Programme in Maryland und Georgetown auch.

Dabei wissen wir, dass die konventionellen schmerztherapeutischen Maßnahmen, die für chronische Schmerzen zur Verfügung stehen, höchstwahrscheinlich nichts anderes sind als extrem teure Placebos.

Inzwischen wird es aber wohl noch ein Weilchen dauern. Denn hierzulande liegt die vermeintliche Qualitätssicherung u.a. in den Händen der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Die hatte es, auch das eine neue Meldung auf diesem Kongress, doch glatt abgelehnt, die Deutsche Gesellschaft für Naturheilkunde aufzunehmen und dadurch von der Mitgestaltung der Leitlinien ausgeschlossen.

Dabei wissen wir aus Meta-Analysen und Reviews – Holger Cramer hat eine solche auf der Tagung vorgestellt – , dass beispielsweise Yoga wirkungsvoller als jede andere Maßnahme bei der Behandlung von Rücken- und Nackenschmerzen ist. Wir wissen, dass Schröpfen und andere Maßnahmen der Naturheilkunde solche Schmerzen wirkungsvoll lindern. Und Frauke Musial aus Tromso [www.nafkam.no] hat mit großer Luzidität nicht nur gezeigt, dass reflextherapeutische Maßnahmen wie Schröpfen wirken, sondern auch warum.

Dabei wissen wir, dass die konventionellen schmerztherapeutischen Maßnahmen, die für chronische Schmerzen zur Verfügung stehen, äußerst dürftig sind, und dass die Unmengen von operativen Eingriffen bei chronischen Rückenschmerzen höchstwahrscheinlich nichts anderes sind als extrem teure und auch nicht ungefährliche Placebos.

Vielmehr zeigen viele erfolgreiche Modelle: konventionelle, moderne Medizin ist unschlagbar gut, wenn es um die Behandlung akuter Probleme geht. Aber sie ist nicht sonderlich erfolgreich in der Behandlung chronischer Krankheiten

All das haben Prof. Kopf vom Schmerzzentrum der Charité und andere erläutert. Dominik Irnich hat am Beispiel seiner multimodalen Schmerzambulanz für chronische Schmerzen an der LMU in München gezeigt, dass und wie ein integratives Programm bei chronischen Schmerzen sehr wohl auch bei solchen Patienten helfen kann, die schon seit Jahren ohne Hoffnung waren. Dabei geht es nicht um das berühmte „Entweder – Oder“, das Kritiker der Komplementärmedizin gerne als Denkfigur bemühen und den Kritisierten als Haltung unterstellen.

Vielmehr zeigt dieses Münchener Ambulanzmodell und viele andere erfolgreiche Modelle: konventionelle, moderne Medizin ist unschlagbar gut, wenn es um die Behandlung akuter Probleme geht. Sie hat auch für viele andere Probleme Lösungen parat. Aber sie ist nicht sonderlich erfolgreich in der Behandlung chronischer Krankheiten, die mittlerweile die Mehrzahl ausmachen. Und daher sind Zusammenarbeit und Integration von Verfahren eine Forderung nicht nur des ökonomischen, sondern auch des fachlichen Verstandes. Aber einstweilen hat es die AWMF geschafft, die unliebsame Konkurrenz der Naturheilkunde draußen zu halten.

Daher sind Zusammenarbeit und Integration von Verfahren eine Forderung nicht nur des ökonomischen sondern auch des fachlichen Verstandes

Die Leitlinien werden also weiterhin jede Menge zweifelhafter Verfahren enthalten, alles unter dem Mäntelchen der Wissenschaftlichkeit. Die Medizin wird weiterhin versuchen, mit zweifelhaften Kontrollmaßnahmen das zu erreichen, was die Patienten wollen. Schlecht informierte Journalisten werden weiterhin behaupten, Komplementärmedizin und Naturheilkunde seien unwissenschaftlich. Muß es auch bei uns erst zu einem Skandal wie in North-Staffordshire kommen, bevor Vernunft und Menschlichkeit die Oberhand gewinnen?

Quellen und Literatur
[1] Walach, H. (2009). Hurra wir haben eine neue Religion. Über Qualitätssicherung. Forschung & Lehre, 16, 342-345.
[2] Walach, H. (2009). Hurra – wir haben eine neue Religion! Über Qualitätssicherung. In Deutscher Hoschulverband (Ed.), Glanzlichter der Wissenschaft. Ein Almanach (pp. 167-171). Saarwellingen: Lucius.
[3] Carthey, J., Walker, S., Deelchand, V., Vincent, C., & Griffiths, W. H. (2011). Breaking the rules: understanding non-compliance with policies and guidelines. British Medical Journal, 343, d5283.
Bauer, J. (2011). Burnout – „Modediagnose“ oder ernste Gesundheitsstörung? Deutsche Apotheker Zeitung, 151, 3000-3004.
[4] Krasner, M. S., Epstein, R. M., Beckman, H., Suchman, A. L., Chapman, B., Mooney, C. J., et al. (2009). Association of an educational program in mindfulness communication with burnout, empathy, and attitudes among primary care physicians. Journal of the American Medical Association, 302, 1284-1293.
[5] Newton, B. W., Barber, L., J., C., Cleveland, E., & O’Sullivan, P. (2008). Is there hardening of the heart during medical school? Academic Medicine, 83, 244-249.