Okkultismus im Quadrat – Die vermeintliche Sicherheit der Evidence Based Medicine (EBM)

Gleich vorneweg, damit wir uns nicht falsch verstehen: Evidence Based Medicine (EBM) ist an sich eine gute Sache, wenn sie denn das ist, was sie ursprünglich sein sollte [1]:

1. Die beste momentan verfügbare wissenschaftliche Datenbasis
2. im Verein mit dem klinischen Urteil des Arztes, das
3. die Präferenz des Patienten berücksichtigt.

Wenn hierzulande das Wort EBM in den Mund genommen wird, vor allem von solchen Leuten, die nicht viel davon verstehen, wird aber meistens 2 und 3 vernachlässigt oder gar komplett weggelassen. Diese Leute lesen dann häufig „wissenschaftliche Datenbasis“ falsch als „Ergebnis randomisierter, placebokontrollierter, klinischer Studien“.

Gerade raschelt es ja in solcher Weise wieder im Blätterwald: die Liberalen Hochschulgruppen (LHG) Nordrhein-Westfalens werfen Barbara Steffens, der Ministerin für Gesundheit in NRW, vor, sie würde dem „Okkultismus“ Tür und Tor öffnen. Warum? Weil sie der Komplementärmedizin, vor allem der Homöopathie wohlgesonnen sei. „Okkultismus ist die Philosophie der dummen Kerle“, so zitieren die LHG aus NRW Adorno als Antwort auf derlei „okkultistischen Unsinn“.

Sehen wir uns das doch ruhig mal genauer an. Die LHG sind bekanntermaßen sowas wie die Burschenschaft der FDP, und die FDP, das ist auch bekannt, treibt im wesentlichen Klientelpolitik für die Großen der Wirtschaft. Insofern dürfte jene Auslassung der LHG weniger wissenschaftlich sondern vielmehr politisch, nämlich klientelpolitisch, zu verstehen sein.

Aber wie steht es tatsächlich um die sachliche Richtigkeit? Als Gegenmotiv zur „okkultistischen Homöopathie“ wird da eine „rationale, aufgeklärte EBM“, in der oben beschriebenen Weise missverstanden, ins Feld gebeten.

Dazu sollte man jedoch folgende Daten zur Kenntnis nehmen: bereits 2007 hat eine Arbeitsgruppe sich die Datenbasis der Cochrane Collaboration angesehen [2]. Die Cochrane Collaboration ist die Speerspitze der EBM und der medizinischen Aufklärung. Sie führt – selbstgesteuert und ohne finanziellen Einfluss – systematische Reviews und Übersichtsarbeiten auf höchstem Niveau durch.

El Dib und Kollegen haben sich nun zufällig 1016 solcher Reviews aus dem damaligen Bestand gegriffen und die simple Frage gestellt: wie viele dieser Reviews geben klare Informationen, haben also eindeutige Schlussfolgerungen?

Das Ergebnis:
bei 2,0 % ist klar, dass die Intervention schädlich ist (nein, die Homöopathie gehört nicht dazu).
bei 1,4 % ist klar, dass die Anwendung gut und nun wissenschaftlich eindeutig belegt ist.
43,0 % der Reviews meinen, die Intervention sei vermutlich hilfreich, es sei aber nicht klar,
und bei 48,0 % sei es unklar und man solle weiterforschen.

Anders gesagt: nur bei 3,4 % aller Interventionen hat die bisherige Forschungsanstrengung eine klare Aussage möglich gemacht. Bei den restlichen gut 96 % tappen wir im Dunkeln und haben eben genau keine wissenschaftliche „Evidenz“.

Was ist dieses Dunkle, in dem wir da tappen? Lateiner vor! Richtig: occultas oder occultum, das Dunkle, Verborgene – das Okkulte. Wenn also irgendwas in der Medizin „okkult“ ist, dann die Wahrheit darüber, was wirklich hilft. So zu tun, als hätte die Wissenschaft schon längst Licht ins Dunkel gebracht und nur die „ewig gestrigen okkulten Homöopathen“ wüssten das noch nicht, ist letztlich Okkultismus im Quadrat. Weil diese Meinung sich nämlich besonders aufgeklärt gebärdet und dabei die wahre Situation verschleiert.

Und wie sieht es mit der angeblich so „okkulten Homöopathie“ aus? Dazu kann man einen interessanten Brief meines Kollegen Lionel Milgroms jüngst im BMJ lesen: Er schreibt, dass derzeit 156 klinische, randomisierte Studien zur Homöopathie existieren, von denen 41 % positive Ergebnisse hatten, 7 % negative, und 52 % keine Schlußfolgerungen zuließen.

Vergleicht man diese Datenlage mit der oben zitierten Studie, so steht die Homöopathie in keinem schlechten Licht. Die Homöopathie ist wissenschaftlich etwa genauso gut oder schlecht belegt, im Dunkeln, „okkult“, wie die untersuchten konventionellen Interventionen.

  1. Sackett, D. L. (1997). Evidence Based Medicine: How to Practice and Teach EBM. New York: Churchill Livingstone.
  2. El Dib, R. P., Atallah, A. N., & Andriolo, R. B. (2007). Mapping the Cochrane evidence for decision making in health care. Journal of Evaluation in Clinical Practice, 13, 689-692.