CAM-Bashing im „Focus“: Gerührt und nicht geschüttelt

Bekannte und Freunde, die in Wissenschaftsredaktionen von Zeitschriften und Fernsehen arbeiten, haben mir erzählt, dass der Informationsmarkt in Wellen verläuft. Auch hier gäbe es eine „Mainstream-Meinung“, der sich nur ganz kluge, sehr angesehene und unabhängige Autoren entziehen können. Das ist ein bisschen wie in der Wissenschaft, scheint mir.

Auch im Wissenschafts-Journalismus gibt es eine „Mainstream-Meinung“, der sich nur ganz kluge, sehr angesehene und unabhängige Autoren entziehen können.

Als ich mit Homöopathieforschung anfing, etwa 1992, hatte ich ein extrem angenehmes und spannendes Interview mit einer „Focus“-Redakteurin, die anschließend einen sehr guten Artikel veröffentlichte: die Probleme der Forschung waren beschrieben, warum man das macht, was es für Modelle geben könnte, wie häufig die Bundesbürger Homöopathie nutzen, welche Daten dafür und welche Überlegungen dagegen sprechen. Kurz: ein richtig ausgewogener und an der Sache interessierter Artikel.

Seither ist viel Wasser in den Bodensee und aus ihm heraus den Rhein hinuntergeflossen – und noch mehr Homöopathie, noch verdünnter als ein Tropfen im Bodensee, konsumiert worden. Seit etwa 10 Jahren hat sich der Mainstream-Wind gedreht. Ein Bekannter, der Redakteur ist, sagte mir, das liege daran, dass die Regenbogenpresse so unkritisch-alberne Artikel über die Alternativmedizin schreibt. Daher hat der kritisch-intellektuelle Redakteur gar keine andere Möglichkeit, als sich durch Kritik abzuheben. Mag ja sein.

CAM-Bashing: das wilde Draufschlagen auf alles, wo „Komplementärmedizin“ draufsteht.

Ich beobachte nun schon seit geraumer Zeit, zuerst in England, und seit ich 2010 wieder zurückkam auch in Deutschland, etwas das ich mal mit einem Anglizismus als „CAM-Bashing“ bezeichnen will: das wilde Draufschlagen auf alles, wo „Komplementärmedizin“ draufsteht. Am allerliebsten auf die Homöopathie, weil die unsere intellektuelle Selbstsicherheit am meisten gefährdet. Aber auch auf die Akupunktur, weil man bei der nicht versteht, was genau passiert. Und auf Pflanzenheilkunde, weil man sich an ihr vergiften kann, wenn man sie zentnerweise auf einmal einnimmt, was ja anscheinend die Konsumgewohnheit des Bürgers zu sein scheint, folgt man der „kritischen“ Presse. Auf Geistheilung sowieso, denn Geister sind Unfug und sowieso schon tot, wie doch jeder weiß.

Ich beobachte gleichzeitig zwei weitere Dinge. Erstens wird die Argumentation immer polarisierter und folgt Mustern, die man diskursanalytisch aus der totalitären Presse kennt – ich werde das gleich an ein paar Beispielen zeigen. Zweitens folgt das CAM-Bashing oft, aber nicht immer, und manchmal nur schwer erkennbar, einem weiteren Muster: es tritt dann auf, wenn vorher irgendwelche schlechten Nachrichten für die akademische Medizin oder die Pharmahersteller durch die Presse gegeistert sind.

CAM-Bashing tritt gehäuft immer dann auf, wenn vorher irgendwelche schlechten Nachrichten für die akademische Medizin oder die Pharmahersteller durch die Presse gegeistert sind.

In England etwa ging das, was ich als offensichtliche Kampagne gegen die Homöopathie bezeichne, los, nachdem 2006 NICE, der englische Regulator, sich weigerte, die neuen Antidemenzmedikationen zuzulassen [1]. Plötzlich wurden Rufe laut, die Komplementärmedizin abzuschaffen und den Universitäten zu verbieten, Studiengänge in Komplementärmedizin anzubieten [2]. Als in kurzer Folge zwei Meta-Analysen hereingepurzelt kamen, die beide unabhängig voneinander zeigten, dass mehr als ein Drittel aller Antidpressiva-Studien unpubliziert waren und dass sich der Effekt der Antidepressiva so verringert, dass er unter dem von NICE, dem englischen Regulator, geforderten Wert liegt, wenn man alle diese Studien mitberücksichtigt [3], wurde die Kampagne aggressiver.

Sie weitete sich auf die gesamte Komplementärmedizin aus, und später auf die Universitäten, die Ausbildungscurricula anboten, unmittelbar nachdem das Royal College of General Practitioners eine neue Behandlungsleitlinie für chronische Rückenschmerzen herausgab [4]. Dort steht zu lesen, dass chronische Rückenschmerzen nicht mit Medikation zu behandeln seien, sondern, in dieser Reihenfolge: durch Bewegung, Manipulation und Chiropraktik – und Akupunktur. Man höre und staune.

Es ist auch in Deutschland nicht zu übersehen: die Bevölkerung mag Komplementärmedizin.

In Deutschland ist die Situation anders. Da gibt es keinen Regulator sondern Pluralität. Aber es ist auch hier nicht zu übersehen: die Bevölkerung mag Komplementärmedizin, vor allem Homöopathie und Naturheilmittel. Der Markt wächst – und der Konsum konventioneller Produkte sinkt. Jeder Patient, der durch Homöopathie, Kinesiologie, Zauberei, Diätempfehlung oder Akupunktur von Migräne geheilt wird, braucht keine Triptane mehr, die er ansonsten ein halbes Leben lang hätte nehmen müssen, wenn es dumm geht zweimal die Woche. Und nun kommen auch noch die Transplantationsskandale dazu, die das Vertrauen in die Universitätsmedizin ankratzen.

Die SPD hat vor der Wahl geschickterweise eine kleine Anfrage zur Komplementärmedizin gestartet – siehe meinen früheren Blog – wird nun möglicherweise sogar Koalitionspartner und ein SPD-Gesundheitsminister könnte dann womöglich den braven und industriefreundlichen Herrn Bahr ablösen. Da hält man es wohl für klug, wenn man schon mal, prophylaktisch und ganz im Sinne der Primärprävention, kräftig auf den journalistischen Busch haut. Ob dazu ein Druckkostenzuschuss notwendig ist, wie Caroline Walter das bei anderer Gelegenheit belegt hat [5], oder ein paar Bier beim Stammtisch reichen, das wollen wir hier nicht weiter verfolgen.

Die Wirklichkeit ist nicht immer die Wahrheit.

Man sieht hier wieder die zeitliche Korrelation: Der „Focus“ haut auf den Busch – und macht einen großen Aufreißer zum Thema „Komplementärmedizin – wie doof und unwissenschaftlich“ (der wirkliche Titel heißt natürlich „Die Wahrheit über die sanfte Medizin“; aber es ist wie mit dem wirklichen und dem echten Heino: Die Wirklichkeit ist nicht immer die Wahrheit). Und hier greift nun der Stil, den ich vorher als typisch für totalitäre Argumentation bezeichnet habe.

Bevor wir das an ein paar Beispielen verfolgen, möchte ich eines ganz klar stellen: Selbstverständlich gibt es in der Komplementärmedizin Scharlatane, wie in der konventionellen Medizin auch. Selbstverständlich funktioniert nicht alles, was in der Komplementärmedizin gemacht wird, wie in der konventionellen Medizin auch. Und selbstverständlich gibt es hier Leute, die Reibach machen und denen der Patient an zweiter Stelle kommt, wie in der konventionellen Medizin auch. Und ebenfalls selbstverständlich gibt es eine Menge von Interventionen, die ungeprüft sind, bei denen nicht klar ist ob und wie sie wirken, wie in der konventionellen Medizin auch.

Klarerweise müssen in der konventionellen Medizin neue pharmakologische Interventionen eine Überlegenheit über Placebo belegen, was für die naturheilkundlichen Produkte nicht gilt, weil bei ihnen die Tradition und der Beleg der Unschädlichkeit ausreichend ist. Ob das richtig und fair ist, steht auf einem anderen Blatt und hat konzeptionelle, juristische und forschungslogische Gründe, die ich in der Zukunft vielleicht mal in einem eigenen Blogbeitrag diskutiere bzw. in meinem Methodenblog teilweise bereits aufgegriffen habe.

Ein richtig guter Artikel würde bei dieser Thematik die Komplexität an die erste Stelle setzen.

Ein richtig guter Artikel würde bei dieser Thematik die Komplexität an die erste Stelle setzen [6]. Er würde zeigen, dass es ein sehr merkwürdiges Missverhältnis gibt in der Bevölkerung zwischen der häufigen Nutzung und dem wenigen Wissen, ja sogar dem anscheinenden Wissen über Unwirksamkeit. So ein Artikel würde Fragen stellen, statt vermeintliche Wahrheiten zu verkünden: etwa, warum das denn so wäre; etwa, wie es denn sein kann, dass Leute, die anscheinend optimal versorgt werden, sich solch angeblich unwirksamen Heilweisen zuwenden und oft – wenn auch nicht immer – Heilung erleben; würde thematisieren, warum denn zu einer Zeit, in der wir eine Medizin haben, die so gut und so wirksam ist wie nie zuvor, diese vermeintliche Scharlatanerie sich nicht von selbst abgeschafft hat oder überflüssig wird. Ja, er würde sogar fragen, warum es denn überhaupt noch eine Presseintervention braucht, um der offenkundigen Vernunft zum Durchbruch zu verhelfen.

Aber der „Focus“ stellt keine Fragen, sondern liefert Antworten anhand anekdotischer Beweislage: Frau A hat da ein Problem. War beim Heilpraktiker. Der macht dummes Zeug. Problem noch immer da, Geld weg. Schlußfolgerung – ist ja einsichtig, klar und logisch: Komplementärmedizin ist unwirksam und unwissenschaftlich. Damit man es auch wirklich glaubt: Herr B. Anderes Problem. Anderer Pfuscher, andere beknackte Intervention. Aber auch kein Erfolg. Macht schon zweimal Misserfolg. Schlußfolgerung: zweimal Misserfolg macht unwissenschaftlich und unwirksam hoch zwei. Damit es aber auch die letzten Zweifler glauben, kommen dazwischen noch ein paar Skeptiker zu Wort, die man, damit es glaubhaft aussieht, gleich noch als die weltbesten Experten hinstellt. Das ist ja auch journalistische Freiheit.

Man kennt ja das Ergebnis und die Schlußfolgerungen schon. Das ist aus meiner Sicht totalitärer Journalismus.

Einer dieser skeptischen Experten, der wie kein anderer die Homöopathie Literatur kennt, obwohl der nur Meta-Analysen von Meta-Analysen gemacht hat, oder sich kleine Gebiete rausgefischt hat und seine Einschlußkriterien so gesetzt hat, dass er sich nicht wirklich viele Gedanken über das Ergebnis machen mußte, weil es eh schon vorher feststand. Das wissen zwar die wirklichen Experten, aber die kommen ja gar nicht zu Wort. Dass diese vermeintlich wissenschaftlichen systematischen Reviews und Meta-Analysen alles andere als dieses sind, ist in der wissenschaftlichen Literatur mit Argument und Belegen nachzulesen, für jeden, den es interessiert [7]. Aber das interessiert in diesem Fall ja niemand, denn man kennt ja das Ergebnis und die Schlußfolgerungen schon. Das ist aus meiner Sicht totalitärer Journalismus. Ein „Journalismus“ der die Komplexität auf eine simple Formel runterbricht: den Leuten sagt, wo’s lang geht und alle anderen – implizit – als Idioten hinstellt oder – noch impliziter – als potentielle Übeltäter, weil sie sich nicht an die ach so offensichtliche Mehrheitsmeinung halten.

Damit auch wirklich keine Zweifel bleiben, wird dann anhand von Einzelbeispielen durchdekliniert, wie bescheuert alles ist. Es ist immer klug, sich die negativen Befunde zu greifen und diese als „weitherum anerkannt“, oder „in der renommierten xyz-Zeitschrift veröffentlicht“ zu deklarieren. Das macht den Eindruck, als habe man tiefschürfend recherchiert. Dass die vermeintlich abschließende Meta-Analyse von Shang zur Homöopathie mit bislang unwidersprochenen Argumenten kritisiert wurde, das kann man ja verschweigen.

Die wahre Schlußfolgerung wäre gewesen: starker Effekt, kleine Studie, unbedingt wiederholen.

Dass die als Gegenbeweis gegen die Wirksamkeit von Bioresonanztherapie zitierte Studie [8] ein statistisches Powerproblem hatte und aufgrund der kleinen Patientenzahl den vorhandenen mittelgroßen Effekt von d = 0.57 nicht entdecken konnte, und daher das Zitat des Studienautors nur zeigt, dass er nicht wirklich ausreichend viel von Studienplanung und Statistik versteht, das merkt ja eh nur der Spezialist. Nebenbei bemerkt: NICE setzt als unterste Grenze der klinisch relevanten Wirksamkeit eines Antidepressivums eine Effektgrösse von d = 0.5. Hier reden wir von Kindern mit atopischer Dermatitis, bei denen ein Effekt von über einer halben Standardabweichung ohne Nebenwirkungen (wie bei systemischer oder topischer Cortisontherapie) durchaus bedeutsam ist. Die wahre Schlußfolgerung wäre gewesen: starker Effekt, kleine Studie, unbedingt wiederholen.

Aber Spezialisten, die einem sowas hätten sagen können, die läßt man mal lieber nicht zu Wort kommen. Die könnten einem ja die klare Suppe trüben, indem sie Zweifel sähen. Interessanterweise kommt außer einer Homöopathin, deren Argumentation man leicht zerpflücken kann, kein wirklich versierter Forscher aus dem Gebiet zu Wort. Ob man keinen erreichen konnte, keiner was sagen wollte, oder man es gar nicht erst probiert hat, das kann sich der geneigte Leser selber überlegen.

Jedenfalls ist diese „Focus“-Recherche so schludrig, das Wissen der Autoren so oberflächlich, das Bewusstsein für die Komplexität der Situation in einem Maße abwesend, dass man sich fragt, was man in unseren Medien denn überhaupt noch ernst nehmen kann, wenn man von der Prämisse ausginge, dass dies der allgemeine Standard sei.

Ich bleibe Optimist und glaube weiter daran, dass solche Anfängerstücke vor allem auf Gebieten gespielt werden, wo es drum geht, eine kleine bestellte Trauermusik zu blasen. Die Seite, die Eckhart von Hirschhausen verfasst hat, zeigt wo das ganze hingehen soll: wahrscheinlich endet der Focus in einer großen Koalition mit dem Eulenspiegel. Oder doch eher mit der Titanic? Oder vielleicht die satirische Ampel-Koalition aus Eulenspiegel, Titanic und Focus? Ganz im Sinne der Zeiten. Aber dann bitte: gerührt, und nicht geschüttelt.

Nachweise
[1] NICE: Dementia: Supporting people with dementia and their carers in health and social care. In NICE Clinical Guidelines 42. London, National Institute for Clinical Excellence, 2006.
[2] Colquhoun D: Science degrees without the science. Nature 2007;446:373-374. Frank L, Chantler C, Dixon M, Colquhoun D: Should NICE evaluate complementary and alternative medicine? British Medical Journal 2007;334:506-507.
[3] Turner EH, Matthews AM, Linardatos E, Tell RA, Rosenthal R: Selective publication of antidepressant trials and Its influence on apparent efficacy. New England Journal of Medicine 2008;358:252-260. Kirsch I, Deacon BJ, Huedo-Medina TB, Scoboria A, Moore TJ, Johnson BT: Initial severity and antidepressant benefits: A meta-analysis of data submitted to the food and drug administration. PLoS Medicine 2008;5:e45.
[4] Savigny P, Kuntze S, Watson P, Underwood M, Ritchie G, Cotterell M, Hill D, Browne N, Buchanan E, Coffey P, Dixon P, Drummond C, Flanagan M, Greenough C, Griffiths M, Halliday-Bell J, Hettinga D, Vogel S, Walsh D: Low Back Pain: early management of persistent non-specific low back pain. London, National Collaborating Centre for Primary Care and Royal College of General Practitioners, 2009.
[5] Walter C, Kobylinski A: Patient im Visier: Die neue Strategie der Pharmakonzern. Hamburg; Frankfurt, Hoffman & Campe; Suhrkamp, 2010, 2011.
[6] Riedl S: Gesundheitswissenschaftliche Kontroversen als journalistische Herausforderung. Fachjournalist 2010:11-16.
[7] Vickers AJ: Reducing systematic reviews to a cut and paste. Forschende Komplementärmedizin 2010;17:303-305. http://www.karger.com/Article/Abstract/322397
[8] Schöni MH, Nikolaizik WH, Schöni-Affolter F: Efficacy trial of bioresonance in children with atopic dermatitis. International Archives of Allergy and Immunology 1997;112:238-246.