Wie wär’s mit einem unvoreingenommenen Blick nach Schweden?

Einige neue Daten zur Übersterblichkeit durch SARS-CoV 2 (Covid-19) und zur Wirksamkeit von Lockdown und nicht-pharmakologischen Maßnahmen

Ich war einige Wochen abgetaucht, weil ich ein Buch fertig geschrieben habe, dessen Abgabetermin nahte. Jetzt kümmere ich mich wieder ein bisschen um die Nachrichten rund um die Coronakrise und es ist fast wie immer: Ich komme aus dem Staunen nicht heraus, wie schnell sich die Ereignisse überschlagen, welche wichtigen Daten in der öffentlichen Darstellung ignoriert werden und wie bestimmte Schlaglichter geworfen werden.

Keiner ist frei von Fehlwahrnehmungen. Ich auch nicht, stelle ich immer wieder fest. Ich hatte ja zum Beispiel vermutet, dass wir nach der ersten Welle von Corona-Infektionen im März 2020 ausreichend Immunschutz in der Bevölkerung haben würden, um eine zweite Welle gar nicht erst zu erleben. Das war klarerweise falsch. Denn jetzt haben wir eine zweite Welle, die größer ist als die erste. Dass das nicht an zu schlechtem, zu späten oder zu wenig „Maßnahmen“ liegt, das zeigt eine neue, aktuelle Studie aus der Arbeitsgruppe von John Ioannidis.

Dessen Position wird in meiner Wahrnehmung in der hiesigen Medienlandschaft kaum transportiert, obwohl er vermutlich mehr Sachkenntnis einbringen könnte, als all die Wissenschaftler, die die Regierung in Sachen Lockdown beraten [1]. Eine Anfrage zeigte, es waren sechs, jawohl, nur 6 Lockdown-Berater, und keiner davon ist ein ausgewiesener Epidemiologe. Nein, Herrschaften, die mir hier widersprechen wollen: Wieler ist kein Epidemiologe. Er leitet nur als Tierarzt ein epidemiologisch wichtiges Institut; es waren also ein Tierarzt, ein Kinderarzt, ein Virologe, ein Pharmakologe und zwei Physiker. Ioannidis ist Epidemiologe in Stanford und einer der weltweit meistzitierten Autoren. Und das wird man nur durch Kompetenz.

Wirksamkeit von Lockdown-Maßnahmen

Die Arbeitsgruppe von John Ioannidis hat sich überlegt, wie man die Wirksamkeit der verschiedenen Lockdown-Maßnahmen untersuchen kann. Das ist nicht ganz leicht, denn eine echte Kontrollgruppe, mit der man vergleichen könnte, gibt es nicht. Sie haben daher prominente Länder genommen, in denen ein relativ starker Lockdown praktiziert wurde; dazu gehören Italien, Spanien, Frankreich, Holland, England, Italien, Deutschland, Iran und die USA. Außerdem zwei Länder, in denen ein milder Lockdown praktiziert wurde, Schweden und Süd-Korea. Dort wurden manche Dinge verboten, in Schweden etwa Großversammlungen, andere aber nicht, z.B. blieben die Geschäfte, Restaurants und Schulen bis zur 9. Klasse offen.

Dann haben die Autoren die Zuwachsraten an Covid-19 Fällen pro Tag als Indikator verwendet, weil das die einzige Art und Weise ist, wie man „einen Schatten des Infektionsgeschehens“, wie sie schreiben, sehen kann. In diese täglichen Zuwachsraten haben sie Parameter für die unterschiedlichen Typen von Maßnahmen hineinmodelliert, die man aus der bekannten Oxford-Datenbank extrahieren kann. Das bedeutet: Der Effekt der Maßnahmen wird geschätzt ab dem Zeitpunkt, ab dem die Maßnahme in Kraft tritt – und zwar als Veränderung der täglichen Zuwachsrate. Am Schluss haben sie die Veränderungen der Zuwachsraten unter Maximal-Maßnahmen mit denen verglichen, die weniger stark waren, Schweden und Süd-Korea.

In keinem einzigen Fall zeigen die Länder mit den stärker restriktiven Maßnahmen signifikant niedrigere Zuwachsraten an Fällen, als die Länder mit weniger restriktiven Maßnahmen. England und Spanien haben sogar, verglichen mit Schweden signifikant höhere Zuwachsraten, trotz, oder vielleicht auch wegen, der Maßnahmen. Deutschland hat mit deutlich stärkeren Maßnahmen genau die gleichen Zuwachsraten wie Schweden.

„Maßnahmen“ verringern in dieser Analyse durchaus die Zuwachsraten insgesamt. Vor der Implementierung von Maßnahmen lagen die Zuwachsraten irgendwo zwischen 23% in Spanien und 47% in Holland. Im Durchschnitt waren es 32% in den Ländern mit den restriktiveren Maßnahmen, 25% in Süd-Korea und 33% in Schweden. Der kombinierte Effekt aller Maßnahmen über alle Länder hinweg war signifikant in 9 von 10 Ländern und lag zwischen einer 10%igen Reduktion in England und einer 33%igen in Süd-Korea. In Spanien spielten die Maßnahmen eine eher unrühmliche Rolle, weil sie die Situation nicht verbesserten. Hier waren die Schulschließungen stark mit einer Zunahme der Fälle assoziiert.

Man kann aus der Analyse auch den Effekt einzelner Maßnahmen ableiten, die übrigens durchaus unterschiedlich für unterschiedliche Länder sind. In Deutschland war zum Beispiel die Ausgangssperre bzw. die Isolation von Menschen zuhause ein Verschlimmerungsfaktor, wohingegen das Arbeiten von Zuhause aus, das Verbieten von privaten und öffentlichen Versammlungen und die Reisebeschränkung positive Effekte hatten. Nicht hingegen die Schulschließungen. In Schweden hatten die Schließungen der höheren Schulen und die Einschränkung von Treffen einen Effekt.

Man muss bedenken: Diese Daten stammen aus der Zeit von Ende Februar bis Anfang April. Das ist die Zeit, in der in den meisten Ländern diese Maßnahmen eingeführt wurden. Sie erfassen also den Effekt der Maßnahmen für die erste Welle relativ gut. In Deutschland lag die durchschnittliche Zuwachsrate damals bei 32% pro Tag.

Eindeutig falsch ist also die Holzhammer Methode, die ich aus meiner Heimat Bayern kenne: „mehr hilft mehr“. Tut es nicht. In den verschiedenen Ländern sind je nach Kultur und Situation unterschiedliche Maßnahmen unterschiedlich wirksam oder unwirksam, manche sogar schädlich. Und was auf keinen Fall stimmt ist, dass man mit mehr Maßnahmen besser fährt als die Länder, die etwas weniger martialisch mit der Situation umgehen wie Süd-Korea oder Schweden.

Bei Süd-Korea muss man ohnedies aufpassen. Offenbar hat das Virus ethnische Vorlieben und gedeiht bei Ostasiaten weniger gut: Eine japanische Studie [2] zeigt an einer Kohorte von zweimal gemessenen Personen, dass die Erkrankungs- und Sterberaten um ein Vielfaches niedriger sind als in Europa oder den USA. Ich habe mit dem Autor korrespondiert: Er bestätigte mir, dass u.a. genetische Faktoren eine Rolle spielen, die das Virus für Ostasiaten weniger gefährlich machen. Daher kann man wohl Süd-Korea (und übrigens auch China) nur bedingt als Maßstab für deutsche Verhältnisse nehmen. Aber Schweden kann man für den Vergleich heranziehen, und da zeigen die Daten klar: Deutschland liegt, was die Zuwachsrate an Fällen angeht, gleichauf mit Schweden.

Schweden

Ich hatte schon in meinem letzten Blog darauf hingewiesen, dass die Häme der hiesigen Presse gegenüber Schweden einer Fehlwahrnehmung geschuldet ist (freundlich ausgedrückt). Die Analyse einer norwegischen Gruppe hat gezeigt, dass sich die standardisierten Todesraten von Schweden und Norwegen über die Jahre hinweg nicht unterscheiden, obwohl Norwegen sehr restriktiv, Schweden eher liberal mit der Situation umgeht [3].

Zu Schweden ist vor Kurzem ein schöner Gastbeitrag eines deutschen Wissenschaftlers veröffentlicht worden. Dr. Sebastian Bauer lebt seit 10 Jahren in Schweden und arbeitet dort in der pharmazeutischen Industrie. Er rückt in seinem Beitrag einige Fehlwahrnehmungen zurecht und fragt – berechtigterweise, finde ich – wie es zu diesen Falschdarstellungen auch in Blättern der Qualitätspresse wie der FAZ kommen kann. Zum Beispiel zeigt er, dass es falsch ist zu sagen, in Schweden sei dieses Jahr ein Ausnahmejahr. Ein solches Jahr kommt des Öfteren vor. Die Lage in Krankenhäusern sei „angestrengt, aber nicht außer Kontrolle“. Das Durchschnittsalter der Verstorbenen liegt bei 84-86 Jahren bei einer mittleren Lebenserwartung von 81 Jahren für Männer und 85 Jahre für Frauen. Offenbar ist die schwedische Strategie nicht ganz falsch, eine kontrollierte Kontaktnahme, vor allem der jüngeren Bevölkerung, mit dem Virus zuzulassen. Dass es sehr schwer ist, die Alten und Kranken davor zu schützen, sehen wir derzeit überall.

Übersterblichkeit bei den Alten und in vielen Bundesländern

Die deutsche Mortalitätsstatistik des Bundesamtes für Statistik weist eindeutig eine Übersterblichkeit aus, die über dem Durchschnitt der vorigen Jahre liegt, zumindest was die letzten Wochen von 2020 angeht, denn die Statistik ist immer nur mit 4 Wochen Verzögerung aktuell. Ich finde, man sollte aber auch hier nie den großen Bauch in den Vergleichsdaten (2016-2019) Anfang des Jahres vergessen, der auf die schweren Grippe-Epidemien 2017/18 zurückgeht, in der sich auch damals schon Särge in Krematorien gestapelt haben; nur das vergisst man leicht. Damals hatten wir eine Übersterblichkeit von mehr als 25.000 Toten aufgrund der Grippe und assoziierter Erkrankungen. Diesen Bauch kann man in der Statistik des Bundesamtes sehr gut sehen. Wenn sich Anfang des Jahres 2021 die Übersterblichkeit maßgeblich über diese Grenze hinaus entwickelt, dann erst haben wir die Übersterblichkeit dieser Jahre erreicht.

Kommt es dazu? Das ist nicht leicht zu sagen. Dazu kann ich nur die Analysen der Münchner Covid-19 Data Analysis Group an der Ludwigs-Maximilian-Universität empfehlen. Diese hat nämlich ein sehr kluges Schätzverfahren implementiert, mit dem sie versucht, diese 4-wöchige Verzögerung, die die Daten des Bundesamts für Statistik aufweisen, zu umgehen. Die neuesten Analysen dieser Gruppe vom 7.1.2021 findet man hier. Ich danke Herrn Prof. Kauermann für die Erlaubnis, diese Analysen hier wiederzugeben. Sie sind von seiner Arbeitsgruppe und nicht von mir (Abbildungen 1-3).

Abbildung 1 – Standardisierte Mortalitätsraten in Deutschland für die Altersgruppe von 35-59 Jahren. Die grüne Kurve gibt den Mittelwert der Jahre 2016 bis 2019 an; die rote Kurve den Mittelwert für 2020 und die blaue Kurve ist der erwartete Mittelwert der Mortalitätsraten ohne Covid-19. Die Daten stammen vom Bundesamt für Statistik, die Aufbereitung, Analyse und Darstellung ist von der Covid-19 Data-Analysis Group der LMU München, Prof. Kauermann https://www.covid19.statistik.uni-muenchen.de/pdfs/codag_bericht_6.pdf)
Abbildung 2 – Standardisierte Mortalitätsraten in Deutschland für die Altersgruppe der 60-79- Jährigen. Die grüne Kurve gibt den Mittelwert der Jahre 2016 bis 2019 an; die rote Kurve den Mittelwert für 2020 und die blaue Kurve ist der erwartete Mittelwert der Mortalitätsraten ohne Covid-19. (Die Daten stammen vom Bundesamt für Statistik, die Aufbereitung, Analyse und Darstellung ist von der Covid-19 Data-Analysis Group der LMU München, Prof. Kauermann https://www.covid19.statistik.uni-muenchen.de/pdfs/codag_bericht_6.pdf)
Abbildung 3 – Standardisierte Mortalitätsraten in Deutschland für die Altersgruppe der 80-Jährigen und Älteren. Die grüne Kurve gibt den Mittelwert der Jahre 2016 bis 2019 an; die rote Kurve den Mittelwert für 2020 und die blaue Kurve ist der erwartete Mittelwert der Mortalitätsraten ohne Covid-19. (Die Daten stammen vom Bundesamt für Statistik, die Aufbereitung, Analyse und Darstellung ist von der Covid-19 Data-Analysis Group der LMU München, Prof. Kauermann https://www.covid19.statistik.uni-muenchen.de/pdfs/codag_bericht_6.pdf)

Wenn man die erste Abbildung betrachtet, die die Mortalitätsraten der unter 59-Jährigen wiedergibt, dann erkennt man gegen Ende des Jahres 2020 eine Untersterblichkeit, sowohl was die Gesamt-Mortalitätsrate als auch die Mortalitätsrate ohne Covid-19 bezogene Todesfälle angeht. Beide Kurven liegen nämlich unter dem Durchschnitt der vorherigen 4 Jahre. Sie liegen auch unter der Zahl 1. Das ist sozusagen die Null-Linie der erwarteten Sterblichkeit, auf Anzahl der Bevölkerung und Todesfälle bezogen. Alles was über 1 liegt stellt eine Übersterblichkeit, also mehr Todesfälle als erwartet dar, und alles was unter 1 liegt ist eine Untersterblichkeit. Eine solche Untersterblichkeit kann man bei der jüngeren Altersgruppe ohne Covid-19 Todesfälle deutlich sehen. Rechnet man die Covid-19-Todesfälle hinzu, dann nähert sich die erwartete Sterblichkeit und die tatsächlich hochgerechnete einander an, aber es bleibt insgesamt eine Untersterblichkeit (nicht vergessen: auch hier sind die letzten 4 Wochen des Jahres Schätzungen).

Anders ist es bei den beiden älteren Gruppen (Abbildungen 2 und 3). Bei den 60-79-Jährigen sieht man eine deutliche zu erwartende Übersterblichkeit für das Ende des Jahres (Abbildung 2). Ohne das Corona-Virus wäre vermutlich sogar eine Untersterblichkeit zu erwarten (die blaue Kurve liegt unter der grünen und unter 1), mit Covid-19 bezogenen Todesfällen liegt die Kurve darüber.

Noch deutlicher sieht man es an der Gruppe der Hochbetagten. Dort wäre ohne Corona-Virus eine Sterblichkeit im Rahmen der Vorjahresdurchschnitte zu erwarten, die eine leichte Übersterblichkeit darstellen würde, weil nun mal alte Menschen öfter im Winter als im Sommer sterben. Mit dem Corona-Virus aber (die rote Kurve) geht die Sterblichkeit steil nach oben. Falls das, was dort zu sehen ist ein Knick nach unten ist, der sich im Jahr 2021 fortsetzt, was wir hoffen wollen, dann muss man und sollte man auch konstatieren: Der enorme Gipfel der Grippewelle 2018 wurde auch in dieser Altersgruppe noch nicht erreicht und wird es hoffentlich auch nicht.

Betrachten wir diese Daten – sine ira et studio, wie Tacitus sagte, ohne Voreingenommenheit und Leidenschaft – dann sehen wir, finde ich, folgendes:

  1. Dass das Corona-Virus zu Todesfällen beiträgt ist offensichtlich.
  2. Diese Todesfälle sind vor allem in der Gruppe der sehr Betagten und Älteren zu sehen.
  3. Dass dieses Virus ein höchst gefährlicher Killervirus ist, dessentwegen man alles andere hintanstellen muss, das ist in den Daten dagegen nicht sichtbar.

Ich wiederhole: Wir haben auch 2018, als das System am Anschlag war und die Grippekranken die Krankenhäuser fluteten, nicht „hart“ reagiert. Ich weiß, die Covid-19-Erkrankung ist anders; sie fordert mehr Pflege, mehr Kapazitäten. Aber wir haben solche Kapazitäten. Blickt man ins Intensivregister, was sieht man? Die Anzahl der Patienten mit Covid-19, die Intensivbetten belegen, ist seit November deutlich gestiegen und liegt auf dem Gipfel, Anfang Januar bei knapp 5.700. Im Moment scheint sie wieder leicht zu sinken.

Aber interessant finde ich, dass sich dieser Gipfel bzw. dieser Zuwachs an Kapazitätsanspruch nicht nach oben fortsetzt. Denn wenn man die Gesamtzahl der belegten Betten ansieht, dann liegt diese immer zwischen 20.000 und 20.600, mit Schwankungen übers Wochenende. Das heißt doch offenbar: das System kann diese zusätzlichen Kranken irgendwie absorbieren, vermutlich durch zwei Prozesse: nicht notwendige Operationen, deren Patienten ansonsten nach der OP in die Intensivstationen kämen, werden verschoben und Patienten, die als Zahlpatienten momentan in Intensivbetten liegen, obwohl es eigentlich nicht nötig wäre, werden wieder auf Normalstation verlegt.

Wenn irgendjemand in den Medien oder in der Politarena die potenziell dramatische Lage in Krankenhäusern bemüht, dann würde ich sagen:

Es wäre zuerst zu fragen, warum seit August die Anzahl der freien Betten und die Notfallreserve reduziert wurde, und es wäre dann zu fragen, warum immer noch irgendwelche vermeintlichen Gesundheitspolitiker davon reden, wir hätten in Deutschland zu viele Kapazitäten und man müsse Krankenhäuser schließen. Aber Strukturbereinigungen vorzunehmen, Bettenkapazitäten aus Spar- oder Privatisierungsgründen zu reduzieren und dann das böse Killervirus für einen Notstand verantwortlich zu machen ist schwarze Politik, schwarz im Sinne von „übel“.

Ich kriege immer mal wieder Zuschriften von Leuten, die sich über meine Blogs freuen, aber auch von Leuten, die sich ärgern. Ich nehme das sehr ernst und denke nach. Dann blicke ich wieder in die Daten, nicht „in die Zahlen“ oder „ins Fernsehen“ oder „in die Zeitung“, nein, sondern in die Daten und sehe: Es ist schlimm, aber lange nicht so schlimm, wie man denken könnte, wenn man zur Tür hinaus geht oder die Zeitung aufschlägt.

„Ja, weil wir die Maßnahmen haben“, heißt es dann. Möglicherweise stimmt ein Teil davon, wie die Analyse von Ben David und Kollegen zeigt. Aber die Maßnahmen alleine machen es offenbar nicht aus. Sonst würden wir einen wesentlich drastischeren Unterschied zu Schweden sehen. Klar, dort sind die Menschen auch vorsichtig. Aber dort waren keine Läden und Restaurants zu, die Kinder sind nicht mit Masken in der Schule gesessen und das Maskentragen in der Öffentlichkeit war kein Zwang. Manche taten es, andere nicht. Abstand hielten viele auch, und Großveranstaltungen waren verboten. Ich würde sagen, das war ein maßvolles und vernünftiges Vorgehen. Wir werden sehen, wie Schweden weiter durch die Krise kommt.

Die kritische Frage, die mich schon seit Beginn dieser Krise beschäftigt, ist: Können wir die ganz Alten und die sehr schwachen und Kranken schützen und wenn ja wie? Denn die sind es offenbar, die unseren Schutz brauchen. Anscheinend funktioniert das momentane Vorgehen nur sehr begrenzt, wie man an den Daten sieht. Und die Isolation von alten Menschen ist kein Schutz, sondern eher eine Bedrohung. Denn Alte sterben trotzdem mehr als man erwarten würde, in Sachsen zeigt sich das am deutlichsten.

Auch das kann man an den Analysen von Prof. Kauermanns Gruppe aus München sehen. Die Analysen wurden nämlich auch getrennt für die Bundesländer gemacht. Ich empfehle Interessierten, sich das in der Originalpublikation anzusehen, weil ich die Grafiken in ihrer Originalauflösung hier nicht präsentieren kann. Daher fasse ich die Befunde in einer Tabelle zusammen (die fehlenden Bundesländer wurden nicht ausgewertet).

BundeslandÜbersterblichkeit ohne COVID 19Übersterblichkeit mit COVID 19Übersterblichkeit verglichen mit dem Grippegipfel 2018
Baden-Württembergneinjanein
Bayernneinjanein
Sachsenjajaja
Thüringenneinjanein
BerlinUntersterblichkeitUnklar, vielleichtnein
Brandenburgjajanein
NiedersachsenUntersterblichkeitleichtnein
NRWUntersterblichkeitjanein
Sachsen-Anhaltneinjanein
Schleswig-HolsteinUntersterblichkeitUntersterblichkeitnein
    
Tabelle 1 – Übersterblichkeit seit November 2020 in einzelnen Bundesländern laut Analyse der Covid-19 Data Analysis Group der LMU München (https://www.covid19.statistik.uni-muenchen.de/pdfs/codag_bericht_6.pdf); die Übersterblichkeit ohne Covid-19 entspricht den blauen Kurven in den Abb. 1-3, die Übersterblichkeit mit Covid-19 den roten Kurven, die Übersterblichkeit verglichen mit dem Grippegipfel entspricht den Werten von 2018 in den Abb.1-3

Eine deutliche Übersterblichkeit, wenn man die Corona-assoziierten Todesfälle dazu nimmt, sieht man in allen Ländern außer Berlin, Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Dort ist sogar mit den Corona-Todesfällen eine deutliche Untersterblichkeit zu verzeichnen.

Interessant ist allerdings folgendes: In Sachsen und Brandenburg sieht man in der Analyse eine Übersterblichkeit sogar ohne Corona-Todesfälle. Das heißt, dass hier offenbar irgendetwas anderes im Spiel sein muss. Vielleicht führen dort die Abstands- oder anderen Maßnahmen zu Todesfällen? Dies müsste auf jeden Fall gesondert betrachtet werden. Eine Pflegedienstleiterin aus Sachsen hat an ein Netzwerk, in dem ich bin, eine sehr bedenkliche E-Mail geschickt: Gerade in Sachsen ist der Personalschlüssel in Altenheimen schlechter als anderswo; dort sind mehr alte Menschen als anderswo, weil die Jungen weggezogen sind; dort sind mehr alte Menschen arm und leben zuhause. Das könnte gerade unter Lockdown-Bedingungen zu einer sehr gefährlichen Mischung werden, in der Menschen nicht nur am Virus, sondern an den Folgeschäden der Maßnahmen leiden und vielleicht sogar sterben.

Das gilt es mit zu bedenken. Unsere politisch Verantwortlichen denken immer nur, scheint mir, daran wie schlimm das Virus werden könnte. Kaum einer denkt daran, dass durch Maßnahmen die Not vieler größer wird, weil durch die Hilfsbürokratie unkomplizierte schnelle Hilfe nur für die erreichbar ist, die wissen wie. Kaum einer denkt daran, dass in ärmeren Familien, die auf engem Raum wohnen, der Stress zunimmt und manchmal Gewalt die Folge ist. Ich will die vielen Sekundärprobleme jetzt gar nicht aufzählen. Jeder kann sie sich selber ausmalen und kennt sie.

Was ich bemerkenswert finde, ist, dass in keinem betrachteten Land außer Sachsen die standardisierte Mortalitätsrate auch nur annähernd an die des Grippegipfels 2018 herankommt. Nirgendwo. Und es sieht, folgt man den Trajektorien der Kurven, auch nicht so aus, als würde das noch geschehen. Ja, die Corona-Pandemie ist schlimm. Aber sie ist, gottseidank, weniger schlimm, als sie hätte sein können. Das heißt nicht, dass es nicht klug ist vorsichtig zu sein. Aber es heißt auch, dass es keinen Grund zur Panik gibt.

Vor allem sollten meines Erachtens die pauschalen Behandlungen aller positiven PCR-Testfälle, auch wenn sie symptomfrei sind, als „Corona-Kranke“ aufhören. Ich hatte schon in früheren Blogs auf diese Problematik hingewiesen. Gerade hat eine Gruppe amerikanischer Rechtsanwälte und Wissenschaftler in einem bemerkenswerten Schreiben wieder deutlich gemacht, dass diese „Falldefinition“ Probleme bereitet. Die Autoren fordern dazu auf, eine Untersuchung anzustrengen vor allem zu der Frage, wie es dazu kommen konnte, dass auf sehr schlampiger Wissenschaft aufgebaute Strategien die Welt gleichsam hypnotisiert haben [4]. Ich werde das Schreiben vielleicht in einem nächsten Blog noch ausführlicher kommentieren.

Aber was in diesem Zusammenhang wichtig ist: Die Frage, ob asymptomatische Menschen, die zwar PCR-positiv sind, aber keine Symptome haben, andere anstecken können, beantwortet eine neuere Meta-Analyse: das ist vermutlich nicht der Fall [5]. Es gibt dazu in dieser Analyse 5 Studien. Drei Studien aus China kommen zu dem Schluss, dass asymptomatische PCR-positive Menschen ansteckend seien. Die zwei anderen zeigen keine sekundäre Infektion, die von solchen asymptomatischen Menschen ausgeht. Ich hatte bereits einmal noch eine andere Studie aus Taiwan zitiert, die ebenfalls keine Ansteckungsgefahr fand, die von asymptomatischen SARS-CoV2-positiven Fällen ausgeht [6]. Aber genau wegen dieser vermeintlichen Gefahr führt man weitreichende Restriktionen ein. Möglicherweise ist das einfach falsch? Falls jemand eindeutige Belege hat, dass dies so ist, dass asymptomatische Menschen andere anstecken können, die nicht auf die drei erwähnten chinesischen Studien verweisen, würde mich das sehr interessieren.

Die Analysen von Bendavid und Kollegen zeigen, dass pauschale Lockdowns und möglichst restriktive Maßnahmen keine optimale Lösung sind. Im schlimmsten Fall können sie sogar ins Gegenteil führen. Daher wäre mein Wunsch an die politisch Verantwortlichen: Weniger Holzhammer, mehr Sorgfalt bei der Analyse. Weniger Kriegsrhetorik, mehr differenzierter Sachverstand. Weniger „entweder-oder“, mehr „sowohl-als auch“. Weniger eng geführte Beratung, mehr Abstützung des Konsens durch breitere Expertise, die endlich auch ausgewiesene Epidemiologen, Infektiologen und Mitglieder anderer Professionen umfassen sollte, ja, vielleicht sogar solche Experten, die den politischen Einschätzungen kritisch gegenüberstehen.

Literatur und Quellen

  1. Bendavid E, Oh C, Bhattacharya J, Ioannidis JPA. Assessing Mandatory Stay-at-Home and Business Closure Effects on the Spread of COVID-19. European Journal of Clinical Investigation. 2021:e13484. doi: https://doi.org/10.1111/eci.13484.
  2. Hibino S, Hayashida K, Ahn AC, Hayashida Y. Dynamic Change of COVID-19 Seroprevalence among Asymptomatic Population in Tokyo during the Second Wave. medRxiv. 2020:2020.09.21.20198796. doi: https://doi.org/10.1101/2020.09.21.20198796.
  3. Juul FE, Jodal HC, Barua I, Refsum E, Olsvik Ø, Helsingen LM, et al. Mortality in Norway and Sweden before and after the Covid-19 outbreak: a cohort study. medRxiv. 2020:2020.11.11.20229708. doi: https://doi.org/10.1101/2020.11.11.20229708.
  4. Senger MP, Ruding SA, Craig CG, Spalding R, Hillier R, Hoar F, et al. The Chinese Communist Party’s Global Lockdown Fraud: Request for expedited federal investigation into scientific fraud in COVID-19 public health policies 2021 [cited 2021 13.1.]. Available from: https://ccpgloballockdownfraud.medium.com/the-chinese-communist-partys-global-lockdown-fraud-88e1a7286c2b#_ftnref87.
  5. Yanes-Lane M, Winters N, Fregonese F, Bastos M, Perlman-Arrow S, Campbell JR, et al. Proportion of asymptomatic infection among COVID-19 positive persons and their transmission potential: A systematic review and meta-analysis. PLOS ONE. 2020;15(11):e0241536. doi: https://doi.org/10.1371/journal.pone.0241536.
  6. Cheng H-Y, Jian S-W, Liu D-P, Ng T-C, Huang W-T, Lin H-H, et al. Contact Tracing Assessment of COVID-19 Transmission Dynamics in Taiwan and Risk at Different Exposure Periods Before and After Symptom Onset. JAMA Internal Medicine. 2020. doi: https://doi.org/10.1001/jamainternmed.2020.2020.