Lebensstil und Demenz

Regelmässige Leser meines Blogs werden sich erinnern: vor Kurzem erschien das von Martin Loef und mir herausgegebene Buch „Demenz – Prävention und Therapie“, das beim KVC-Verlag direkt bezogen werden kann. Die offizielle Lehrmeinung zum Thema lautet ja, dass Demenz nicht viel mit Lebensstil und Verhalten zu tun hat und daher auch nur als Schicksal erlitten werden kann. Im Normalfall wartet man auf den Durchbruch, damit man mit einer magischen Pille die Demenz – irgendwann, in ferner Zukunft – behandeln kann. Dieser Haltung sind wir in diesem Buch entgegengetreten und zeigen auf, welche Möglichkeiten es gibt – und warum Demenz eben doch viel mit Lebensstil zu tun hat.

Nun belegt eine neue retrospektive Kohortenstudie, die im JAMA, dem Journal of the American Medical Association erschienen und frei zugänglich ist, mit Zahlen, dass ein Zusammenhang mit dem Lebensstil tatsächlich zu erkennen ist. [1]

Die Daten stützen sich auf die englische Biodatenbank. Das ist eine große Kohorte von einer halben Million Menschen, die sich freiwillig immer wieder untersuchen lassen und einwilligen, dass ihre Daten für Forschung verwendet werden dürfen. Knapp 200.000 davon, die bei der Erstuntersuchung 60 Jahre oder älter waren und frei von Demenzsymptomen, wurden nun mit den entsprechenden Daten zu Genetik und Lebensstil ausgewertet.

Es wurde untersucht, ob bei den Fällen, bei denen in der Zwischenzeit Demenz aufgetreten ist, Zusammenhänge mit Lebensstil und genetischen Risikofaktoren zu finden sind. Die Hälfte dieser Kohorte war dabei länger als 8 Jahre unter Beobachtung. Die Daten stammen also nicht aus einer sehr langen Beobachtung, aber doch ausreichend lang, um einige Zusammenhänge festzustellen. Es zeigt sich: Sowohl Genetik als auch Lebensstil weisen einen Zusammenhang mit dem späteren Auftreten von Demenz auf.

Knapp 1% der beobachteten Personen (nämlich exakt 1.796 von 196.383) entwickelten in dem Beobachtungszeitraum eine Demenz. Die Forscher konstruierten einen komplexen genetischen Risikofaktor, bei dem alle mittlerweile bekannten genetischen Risiken zu einem Index zusammengeführt wurden (etwa das Präsenilin-Gen, das Gen, das zu einer Mutation im Amyloid Precursor Protein führt und das Apolipoprotein E4 Gen). Es zeigte sich ein klarer linearer Zusammenhang zwischen Genetik und Demenzrisiko. Wer solche Risikofaktoren trägt, hat ein etwa doppelt so hohes Risiko an Demenz zu erkranken (die hazard-ratio beträgt genau 1.91 und ist signifikant) und zwar je mehr, desto höher. Etwa 20% der Menschen haben erhöhtes genetisches Risiko, 60% liegen in der Mitte und 20% haben ein geringes genetisches Risiko.

Davon unabhängig gibt es aber auch einen Lebensstil-Risiko-Wert. Die Forscher berechneten diesen Lebensstilrisikowert naturgemäss relativ grob anhand der Angaben, die die untersuchten Personen bei der Eintrittsuntersuchung machten. Dabei wurde als „gesunder Lebensstil“ das zugrunde gelegt, was derzeit aufrung großer Untersuchungen als solcher gilt und von der WHO so abgesegnet wurde.

Dazu gehört:

  • Regelmässige Bewegung, entweder 150 Minuten moderate oder 75 Minuten starke Bewegung pro Woche (das entspricht entweder einer halben Stunde Spaziergang pro Tag oder zwei ausführlicheren Bewegungsprogrammen wie Radfahren oder Dauerlaufen)
  • kein Rauchen
  • moderater Alkoholkonsum; das entspricht pro Tag etwa einem Deziliter Weit für Frauen oder zwei Deziliter für Männer, oder ein kleines Bier für Frauen und ein großes Bier für Männer; siehe hierzu auch meinen Blog „Wieviel Alkohol schadet nicht…“.
  • das Essen von mindestens 4 von 7 Nahrungsmittelgruppen:
    • Früchte, 3 mal oder öfter am Tag
    • Gemüse, 3 mal oder öfter am Tag
    • Fisch, 2 mal oder öfter pro Woche
    • verarbeitetes Fleisch/Wurst, 1mal oder weniger pro Woche
    • rotes Fleisch, 1.5mal oder weniger pro Woche
    • Vollkorn, 3mal oder öfter pro Tag
    • ausgemahlenes Mehl, 1.5 mal oder weniger pro Tag

Wenn man aus diesen Lebensstilmerkmalen einen Risikowert bildet, so zeigt sich, dass der Lebensstil mit einer Hazard-Ratio von 1.35 etwas weniger stark zu Buche schlägt wie das genetische Risiko. Das bedeutet, wer einen ungesunden Lebensstil pflegt erhöht sein Risiko, an Demenz zu erkranken um 35%, bzw. anders herum, wer einen gesunden Lebensstil pflegt verringert sein Risiko. Von 100 Menschen mit ungesundem Lebensstil sind es 1.23, die im Beobachtungszeitraum eine Demenz erleiden, von 100 Menschen mit gesundem Lebensstil sind es nur 0.63. Wer aber einen hohen genetischen Risikofaktor und einen ungesunden Lebensstil aufweist, der hat ein beinahe verdreifachtes Risiko mit einer Hazard-Ratio von 2.83 (eine HR von 3.0 wäre ein exakt dreifach erhöhtes Risiko).

Um diese Daten richtig einzuordnen ist es wichtig zu verstehen: Das sind alles extrem grobe Betrachtungen. Die genetische Risikolage kann man noch einigermaßen präzise abbilden, zumindest aufgrund der Risikoprofile, die mittlerweile bekannt sind – und gerade hier hat man mehr geforscht als anderswo. Dass dieses genetische Risiko nicht stärker sichtbar wird, ist eigentlich die große Überraschung. Denn alle Welt tut ja so, als sei Demenz genetisch vorherbestimmtes Schicksal. Nur 20% der Bevölkerung haben ein ausgeprägt schlechtes genetisches Risikoprofil und dieses zeigt sich auch, aber wesentlich weniger stark, als man erwarten würde. Da nur Menschen ohne bestehende Demenz in die Studie eingingen, sind natürlich die Fälle, bei denen eine ausgeprägt starke genetische Disposition vorlag und die meistens schon viel früher erkranken als mit 60, ausgeschlossen. Das sind aber auch nur die wenigsten aller Demenzpatienten.

Vor diesem Hintergrund ist die Erkenntnis, dass der Lebensstil einen signifikanten Einfluss hat, von Bedeutung. Dass diese Bedeutung für Menschen zunimmt, die ein ungünstiges genetisches Risikoprofil haben, wundert eigentlich nicht, denn irgendwie muss sich diese genetische Verwundbarkeit ja zeigen.

Was mich wundert, ist, dass schon bei einer relativ grobschlächtigen Auflösung dessen, was gesunden Lebensstil ausmacht, dieser Effekt so deutlich sichtbar wird. Denn viele, wesentlich subtilere Effekte sind ja von dieser Bewertung gar nicht erfasst: etwa die Frage, mit welchen Fetten Menschen sich ernähren und wie das Verhältnis von Omega-3 zu Omega-6-Fettsäuren ist [2]; ob Menschen eher in einer ketogenen oder glykogenen Stoffwechsellage operieren [3]; ob sie regelmässig meditieren oder eine andere Form der geistigen Hygiene betreiben [4] oder nicht; ob sie sich mit Informationen fluten lassen und der allgemeinen Hektik unserer Tage nachleben oder nicht [5], um nur einige mögliche und höchstwahrscheinlich wichtige Faktoren zu nennen.

Gar nicht erfasst sind dabei die von der Mainstream-Forschung kaum beachteten Fragen ob jemand in seinem Leben durch Zahnbehandlung oder andere Quellen stark Quecksilber ausgesetzt war oder nicht [6] oder ob möglicherweise gepulste Mikrowellenstrahlung aus Mobilfunk eine Rolle spielt.

Ich würde davon ausgehen, dass eine feingliedrigere Auflösung dieser Lebensstilfaktoren eine deutlich höhere Aufklärung der Frage bringen würde, warum Menschen an Demenz erkranken. Aber eine solche Untersuchung ist natürlich extrem aufwändig und teuer und wurde bis jetzt nicht durchgeführt.

Aber auch so deuten die sehr grobschlächtigen in dieser Studie publizierten Daten an: Lebensstil spielt eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Demenz. Die weit verbreitete Meinung, Demenz sei Schicksal und käme einfach auf uns zu, wenn und weil wir älter werden, wird vermutlich auch bald zu den bröckelnden Mythen gehören, mit denen wir uns umgeben und mit denen wir Verantwortung abgeben.

Vielleicht wäre es an der Zeit, dass die Forschung, und vor allem die Forschungsförderung umdenkt? Weg von der magischen und vielleicht auch etwas infantilen Vorstellung, man könnte ein Heilmittel gegen Demenz finden – hin zu der viel komplexeren, aber wohl auch relevanteren Frage, welche Lebensstilfaktoren und welche Kombinationen von Faktoren für das Entstehen einer Demenz entscheidend sind. Das könnte nämlich auch zu einer wirklich in Daten gegründeten Präventionsstrategie führen und unserer alternden Gesellschaft einen Ausweg aus der Demenzfalle eröffnen.

Quellen und Literatur:

[1] Lourida, I., Hannon, E., Littlejohns, T. J., Langa, K. M., Hyppönen, E., Kuźma, E., et al. (2019). Association of Lifestyle and Genetic Risk With Incidence of Dementia. JAMA, 322(5), 430-437. http://dx.doi.org/10.1001/jama.2019.9879

[2] Loef, M., & Walach, H. (2013). The omega-6/omega-3 ratio and dementia or cognitive decline: A systematic review on human studies and biological evidence. Journal of Nutrition in Gerontology and Geriatrics, 32, 1-23.

Schmiedel, V., Vogt, H., & Walach, H. (2017). Are pupil’s “Programme for International Student Assessment (PISA)” scores associated with a nation’s fish consumption? Scandinavian Journal of Public Health, 46, 675-679. https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/1403494817717834

[3] Jansen, N., & Walach, H. (2016). The development of tumours under a ketogenic diet in association with the novel tumour marker TKTL1: A case series in general practice. Oncology Letters, 11, 584-592. https://www.spandidos-publications.com/10.3892/ol.2015.3923

Klement, R. J., Bandyopadhyay, P. S., Champ, C. E., & Walach, H. (2018). Application of Bayesian evidence synthesis to modelling the effect of ketogenic therapy on survival of high grade glioma patients. Theoretical Biology and Medical Modelling, 15(12). https://tbiomed.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12976-018-0084-y

de la Monte, S., & Wands, J. R. (2008). Alzheimer’s Disease is type 3 diabetes – evidence reviewed. Journal of Diabetes Science and Technology, 2, 1101-1113. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2769828/

Paoli, A., Rubini, A., Volek, J. S., & Grimaldi, K. A. (2013). Beyond weight loss: a review of the therapeutic uses of very-low-carbohydrate (ketogenic) diets. European Journal of Clinical Nutrition, 67, 789-796. https://www.nature.com/articles/ejcn2013116

Loef, M., & Walach, H. (2013). Midlife obesity and dementia: meta-analysis and adjusted forecast of dementia prevalence in the US and China. Obesity, 21, E51-E55. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/oby.20037

[4] Gard, T., Taquet, M., Dixit, R., Hölzel, B. K., de Montjoye, Y.-A., Brach, N., et al. (2014). Fluid intelligence and brain functional organization in aging yoga and meditation practitioners. Frontiers in Aging Neuroscience, 6, Art 76. https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fnagi.2014.00076/full

[5] Nehls, M. (2014). Die Alzheimer Lüge: Die Wahrheit über eine vermeidbare Krankheit. München: Heyne. http://www.michael-nehls.de/alzheimer-luege.htm

[6] Mutter, J., Curth, A., Naumann, J., Deth, R., & Walach, H. (2010). Does inorganic mercury play a role in Alzheimer’s disease? A systematic review and an integrated molecular mechanism. Journal of Alzheimer’s Disease, 22, 357-374. https://content.iospress.com/articles/journal-of-alzheimers-disease/jad100705