Krebs: die modernen Mythen von der Macht unserer Medizin

Ich bin in letzter Zeit gleich mehrfach mit dem Thema „Krebs“ konfrontiert worden. Eine Studienkollegin, die mit mir studiert hat und ein Jahr jünger ist als ich, verstarb gerade an Krebs; letzte Woche war ich bei ihrer Abdankungsfeier. Die Chemotherapie konnte ihr noch etwas an Lebenszeit schenken, aber geheilt wurde sie nicht.

Anlässlich des Journal Clubs unserer Zeitschrift „Forschende Komplementärmedizin“, den man übrigens frei herunterladen kann, habe ich mich mit den Studien beschäftigt, die der homöopathische Arzt und Internist Prof. Frass in Wien gemacht hat. Er hat, kurz zusammengefasst, die erste größere Kohorte Krebspatienten untersucht, die er zusätzlich zur konventionellen Behandlung mit Homöopathie behandelt hat – und sie in einem historischen Vergleich konventionell behandelten Patienten gegenübergestellt [1]. Dabei hat er nur solche Krebsarten genommen, die eine extrem schlechte Prognose hatten. Er fand dabei einen statistisch gesicherten Überlebensvorteil.

Nun war diese Studie nicht mit einer parallelen Vergleichsgruppe versehen, und wie wir aus unserer eigenen Studie wissen, sind Krebspatienten, die sich homöopathisch behandeln lassen anders [2, 3]. Daher kann diese Studie nur ein erster Hinweis sein. Außerdem hat Aust darauf hingewiesen, dass die Auswertung verzerrt sein könnte durch den sog. „immortal time bias“ [4]. Dahinter verbirgt sich die Tatsache, dass Patienten, bis sie zur Homöopathie kommen, schon „Überlebenszeit“ angesammelt haben, die bei den Patienten der historischen Kontrolle nicht einberechnet wurde, ein durchaus ernst zu nehmendes Argument, wie ich finde.

Das haben nun die Wiener Kollegen berücksichtigt und gezeigt, auch anhand einer neuen Kontrollgruppe die zeitgleich erhoben wurde, dass der Überlebensvorteil selbst dann vorhanden ist, wenn man diese Zeit mit einrechnet [5]. Und, vielleicht wichtiger, in einer neuen, pragmatischen randomisierten Studie zeigen die Autoren, dass Homöopathie, zusätzlich zur konventionellen Therapie angewandt, die Lebensqualität verbessert [6]. Das bestätigt unsere Befunde aus einer nicht-randomisierten Vergleichsstudie [2].

Aus meiner Sicht erstaunlich ist, dass mit einer solchen Therapie wie Homöopathie die Lebensqualität von Krebspatienten verbessert werden kann, wie die Studie von Frass und unsere eigene zeigt, und möglicherweise sogar die Überlebenszeit. Hier müssen wir wohl noch die Überlebensdaten aus der neuen Studie von Prof. Frass abwarten; aber wenn die Daten der ersten Studie nicht ganz falsch waren, ist mit einem positiven Ergebnis zu rechnen. Genaueres wie gesagt im Journal Club der „Forschenden Komplementärmedizin“.

Das alles muss man nun in den Kontext stellen. Kontext ist ein wildes Schimpfen der Kritikerszene und mit ihr verbündeter Wissenschaftsjournalisten, die alle der Öffentlichkeit weismachen wollen: Homöopathie sei wirkungslos, weil ja bloß Placebo. Homöopathie sei gefährlich, denn man enthalte ja den Leuten die wahre, wirksame Medizin vor. Ja, Homöopathie bringe mit ihren starken Nebenwirkungen sogar Leute um (!!), wie Edzard Ernst einmal in einem selten schlampigen Review behauptet hat [7]. Ich habe damals nachgewiesen, dass die Autoren dieses Reviews Daten falsch berichtet und missverstanden hatten [8].

Kontext ist auch ein neuer Review von Peter Wise, der gerade im British Medical Journal erschienen ist [9]; er ist frei verfügbar. Weder Peter Wise noch dem BMJ kann man nun eine besondere Nähe zu Verschwörungstheorien, Komplementärmedizin und anderen Irrationalitäten nachsagen. Daher ist es umso erstaunlicher wenn man liest, dass die gestiegenen Überlebenschancen von Krebspatienten über die letzten 40 Jahre – von 49% auf 68% – vor allem auf die Erfolge bei einigen wenigen Krebsarten zurückgehen, die weniger als 10% aller Tumorerkrankungen ausmachen. Bei denen hat die Chemotherapie wirkliche Erfolge aufzuweisen: nämlich bei Hodenkrebs (40% Steigerung der 5 Jahre Überlebensrate, das übliche Maß zur Messung von Erfolg bei Krebstherapien), bei Hodgkin (37%), Cervixkarzinom (12%), Lymphom (10,5%) und Ovarialkarzinom (8,5%).

Bei den anderen 90% aller Krebsarten liegt zusammengenommen der Überlebensvorteil neuerer Chemotherapie-Regimes gegenüber alten bei weniger als 2.5% oder etwa 3 Monate Überlebensvorteil. Dieser Vorteil, so Wise, ist vor allem im Kontext starker Toxizität und daher starker Nebenwirkungen zu sehen. Dieser Markt macht mittlerweile 110 Milliarden Dollar weltweit aus. Anders ausgedrückt: wir geben 110 Milliarden Dollar dafür aus, dass eine Mehrheit der Krebspatienten ein bisschen Hoffnung und 3 Monate länger zu leben hat.

Wer es etwas prickelnder mag, dem empfehle ich Wolfgang Schorlaus Roman „Die letzte Flucht“; er ist exzellent recherchiert und stützt sich auf gute Quellen.

Das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auf anderen Gebieten der Krebsbehandlung durchaus Fortschritte gibt: bei manchen Immuntherapien, vor allem wenn sie individualisiert sind, bei der frühen Diagnostik und Behandlung, bei schonenden Bestrahlungs- und Operationsmethoden, oder neuen Ultraschallmethoden. Aber der Punkt ist hier: das Gros der Therapielast, sowohl finanziell als auch zahlenmässig, sind immer noch starke, aber kaum therapeutisch wirksame Chemotherapeutika.

Und die wenigsten Patienten werden von unseren patientenfreundlichen Skeptikern oder behandelnden Ärzten wirklich sorgfältig darüber aufgeklärt, wie groß, oder eigentlich klein, ihre Chancen sind, gesund zu werden. Wise zitiert etwa eine Befragung an 1200 Kolonrektalkrebs- und Lungenkrebspatienten im späten Stadium ihrer Erkrankung. 75% von ihnen erwarteten eine Heilung von einer neuen Chemotherapie, dabei ist Heilung in solchen Fällen extrem selten. Wise weist vor allem auf die Ethik der Aufklärung hin: Patienten müsste eigentlich sehr klar gesagt werden, wie ihre Chancen im Sinne von Überlebenszeit sind, mit welchen Risiken sie diese erkaufen – und dann eine gemeinsame Entscheidung gefunden werden.

Man sollte auch nicht übersehen: die Daten, die wir haben, stützen sich auf eine durchschnittliche Teilnahmequote von 3% aller Krebspatienten, die sich entschlossen haben, bei Studien mitzumachen. Was ist mit den übrigen 97%, meine verehrten Herren und Damen von der Skeptikerfraktion, vom IQWIG und von sonstwo? Ist es denn zulässig, aufgrund dieser Daten Aussagen über „die“ Krebstherapie oder „das“ Präparat xyz zu machen? [10, 11] Ist es angesichts dieser Tatsachen wissenschaftlich und ethisch korrekt und vertretbar, zwar zur Saujagd auf die Homöopathie zu blasen – die immerhin ein paar interessante Daten auf diesem Sektor zu ihren Gunsten vorzuweisen hat -, aber die Lakunen der konventionellen Therapien samt ihrer ethischen Probleme einfach zu ignorieren?

Und ich frage Sie alle, vom Feuilleton und von den Wissenschaftsredaktionen: ist es immer noch cool, die Homöopathie als irrational abzuschießen, aber die mangelnde Wirksamkeit und die extreme Kostenlast zu Lasten der Allgemeinheit zu verschweigen und als Preis des Fortschritts zu ignorieren?

Prof. Wolf-Dieter Ludwig von der Arzneimittelkommission der Ärzteschaft weist schon lange auf diesen Sachverhalt hin, aber ich glaube ich habe in den letzten Monaten mehr Berichte in der Presse über die Gefährlichkeit und die Irrationalität der Homöopathie gelesen als über diesen wesentlich schwerwiegenderen und bedeutenderen Sachverhalt.

Könnte es sein, dass da Interessenskonflikte bei der Presse eine Rolle spielen? Man lese dazu die Reportage von Carolin Walter [12]. Da wird auf S. 36 der Taschenbuchausgabe berichtet, dass eine Mitarbeiterin einer Informationsagentur, die für die Pharmabranche arbeitet, als freie Mitarbeiterin für eine „überregionale Tageszeitung“ tätig sei und im übrigen ausreichend Druckkostenzuschüsse flössen, um freundliche Berichterstattung zu sichern.

Wäre es nicht langsam Zeit, die Kirche im Dorf zu lassen? Das würde für mich heißen: Homöopathie kann manchmal nützlich sein. Aber vor allem erfüllt sie das wichtigste Gebot ärztlicher Ethik: primum nil nocere – zuallerst: keinen Schaden zufügen. Wenn sie hilft, ist es aus meiner Sicht egal ob durch Placebo-Effekte, Zauberei, subtile Information oder Quantenquark.

Apropos Placebo-Effekt: Kann mir einer aus der Skeptikerfraktion, der gerne das Placebo-Argument gegen die Homöopathie bemüht erklären, warum diese 75% der Kolorektalkarzinompatienten, die fest daran glauben, dass ihr neues Chemotherapeutikum ihren Krebs heilen wird, obwohl das höchstwahrscheinlich falsch ist, sterben – aber die Patienten, die zu Prof. Frass‘ Homöopathiesprechstunde gehen ein bisschen länger leben, obwohl sie doch von allen Irrationalistenjägern dieses Zeitalters auf die Gefährlichkeit und Unsinnigkeit der Homöopathie hingewiesen worden sind? Wer hier eine gute Erklärung hat, dem würde ich vorschlagen, sich bei Randi einen Preis abzuholen.

Hingegen wäre es langsam mal an der Zeit, die immensen Verschwendungen an öffentlichen Mitteln zu thematisieren, die dadurch geschehen, dass wir einem blinden und völlig unkritischen Fortschrittsglauben huldigen, in dem wir immer noch meinen, wir können das ewige Leben von der Stange oder aus der Infusionskanüle holen. Wäre es nicht wichtiger, Patienten endlich zu mündigen, verantwortlich Handelnden zu bilden – Agenten, statt Patienten, wie ich es einmal formuliert habe [13]?

Wise meint in seinem Aufsatz, dass es gebotene Pflicht sei, Patienten zu einer gemeinsamen Entscheidungsfindung zu bringen, die nicht von Interessenskonflikten genährt ist. Dazu gehört aus meiner Sicht auch ein viel besseres Wissen und Verständnis von Alternativen oder ergänzenden Maßnahmen, von Ernährungs- und Lebensstilüberlegungen bis hin zu anderen therapeutischen Ansätzen.

Dazu müssten wir aber vor allem ein öffentliches, institutionalisiertes Interesse haben, z.B. ein Forschungsinstitut auf nationaler oder europäischer Ebene, so wie in Australien oder in den USA, wie ich zusammen mit Frau Pietikäinen (MEP) anlässlich des Erscheinens des ersten europäischen Forschungsprojektes zur Komplementärmedizin gefordert habe [14].

Quellen:

  1. Gaertner K, Müllner M, Friehs H, Schuster E, Marosi C, Muchitsch I, Frass M, Kaye AD: Additive homeopathy in cancer patients: Retrospective survival data from a homeopathic outpatient unit at the Medical University of Vienna. Complementary Therapies in Medicine 2014;22:320-332.
  2. Rostock M, Naumann J, Güthlin C, Günther L, Bartsch HH, Walach H: Classical homeopathy in the treatment of cancer patients – a prospective observational study of two independent cohorts. BMC Cancer 2011;11
  3. Güthlin C, Walach H, Naumann J, Bartsch H-H, Rostock M: Characteristics of cancer patients using homeopathy compared with those in conventional care: a cross-sectional study. Annals of Oncology 2010;21:1094-1099.
  4. Aust N: Prolonged lifetime by adjunct homeopathy in cancer patients—A case of immortal time bias. Complementary Therapies in Medicine 2016;24:80.
  5. Gleiss A, Frass M, Gaertner K: Re-analysis of survival data of cancer patients utilizing additive homeopathy. Complementary Therapies in Medicine 2016;27:65-67.
  6. Frass M, Friehs H, Thallinger C, Sohal NK, Marosi C, Muchitsch I, Gaertner K, Gleiss A, Schuster E, Oberbaum M: Influence of adjunctive classical homeopathy on global health status and subjective wellbeing in cancer patients – A pragmatic randomized controlled trial. Complementary Therapies in Medicine 2015;23:309-317.
  7. Posadzki P, Alotaibi A, Ernst E: Adverse effets of homeopathy: a systematic review of published case reports and case series. The International Journal of Clinical Practice 2012;66:1178-1188.
  8. Walach H, Lewith G, Jonas W: Can you kill your enemy by giving homeopathy? Lack of rigour and lack of logic in the systematic review by Ernst and colleagues on adverse effects of homeopathy. International Journal of Clinical Practice 2013;67:385-386.
  9. Wise PH: Cancer drugs, survival, and ethics. BMJ 2016;355:i5792.
  10. Walach H: There is no hierarchy in the first place – A comment on Jürgen Windeler. Journal of Clinical Epidemiology 2016;75:128-129.
  11. Walach H, Loef M: Using a matrix-analytical approach to synthesizing evidence solved incompatibility problem in the hierarchy of evidence. Journal of Clinical Epidemiology 2015;68:1251-1260.
  12. Walter C, Kobylinski A: Patient im Visier: Die neue Strategie der Pharmakonzerne. Hamburg; Frankfurt, Hoffman & Campe; Suhrkamp, 2010, 2011.
  13. Walach H: Agenten statt Patienten (Editorial). Deutsche Zeitschrift für Akupunktur 2012;55:4-6.
  14. Walach H, Pietikäinen S: A Roadmap for CAM Research towards the Horizon of 2020. Forschende Komplementärmedizin / Research in Complementary Medicine 2014;21:80-81.