(4) EBM in Aktion: Ein konkretes Beispiel

Behandlung chronischer Schmerzen mit Entzündungshemmern

Ich hatte Ihnen ja ganz am Anfang vorgeschlagen, sich einmal eine beliebige Behandlungsrichtlinie zu suchen, sich dort eine der Behandlungsroutinen anzusehen und nachzuschauen, auf welche Daten sich diese Vorgaben stützen. Dann, so meine Idee, wäre es nützlich, sich ein paar Originalstudien anzusehen, um zu prüfen ob die Patienten die in diesen Studien eingeschlossen wurden mit denen vergleichbar sind, die Sie selbst in der Praxis sehen. Die Idee dahinter (Sie erinnern sich sicherlich): Randomisierte Studien, die ja zu denen gehören die intern valide Ergebnisse erzielen, leiden oft an mangelnder Generalisierbarkeit. Genau das wollte ich an diesem Beispiel konkretisieren. Aber: wie so oft überrascht einen die Wirklichkeit damit, dass sie bunter und schräger ist, als man sich das in den wildesten Träumen vorstellen kann.

Folgen Sie mir daher auf meiner eigenen Reise:
Ich habe also meine Hausaufgabe gemacht (genauer gesagt: ich habe meine Assistentin Majella gebeten, mir dabei zu helfen, bei ihr möchte ich mich an dieser Stelle mal explizit bedanken, damit Sie auch erfahren, wer u.a. noch hinter meiner Arbeit steht). Dazu habe ich mir die neuesten Behandlungsrichtlinien der “American Association for Anesthesiology” gegriffen, die von der “Task Force on Chronic Pain Management”, einer eigens eingesetzten Arbeitsgruppe 2010 publiziert wurden, also taufrisch [1]. Chronische Schmerzen, so denkt der Normalverbraucher, werden meistens und zunächst medikamentös behandelt. Das liest man auch in allen Originalstudien und Übersichtsarbeiten die sich mit chronischer Schmerzbehandlung beschäftigen bereits in der Einleitung (ein paar Beispiele: [2-5]). Rückenschmerzen, zumal chronische, machen den Hauptanteil an chronischen Schmerzen aus. Auch die werden, logischerweise, zunächst hauptsächlich mit Schmerzmitteln behandelt.

Das leuchtet allen ein und klingt zunächst plausibel und auch sehr wissenschaftlich. Denn wozu, wenn nicht zur Behandlung von Schmerzen, wären solche Arzneimittel zugelassen? Das spiegelt sich auch in den „Chronic Pain Management Guidelines“ wieder: es werden eine Fülle von Methoden besprochen und selbstverständlich gehören medikamentöse Behandlungen zu diesen Methoden. Die Richtlinien führen aus: Man könne auch mit nichsteroidalen antiinflammatorischen (Schmerzmittel und Entzündungshemmer) Substanzen behandeln. Einfache Schmerzmittel, wie Aspirin, funktionieren bei chronischen Schmerzen nicht. Das sieht man leicht daran, dass die Schmerzen immer noch bestehen und chronisch geworden sind; unter “chronisch” versteht man hier Schmerzen, die nach 6 Monaten immer noch da sind oder immer wieder auftreten.

Die besagten Schmerz- und Entzündungshemmer werden auch nichtsteroidale anti-inflammatorische Substanzen, (NSAIDs = non-steroidal anti-inflammatory drugs) genannt. Das sind Substanzen, die die sog. Cyclooxigenasen (Cox) hemmen. Diese Enzyme braucht der Körper, um Prostaglandine zu synthetisieren, und sie spielen wiederum bei der Entzündungskaskade, die zu Schmerzen führt, eine entscheidende Rolle. Von diesen Cyclooxigenasen gibt es mindestens zwei verschiedene, die unterschiedliche Aufgaben haben. Die alten Entzündungshemmer – Aspirin, Ibuprofen, Diclofenac – wirken auf beide. Deshalb versuchte man Substanzen zu entwickeln, die nur Cox2 hemmen und Cox1 in Ruhe lassen. Das gelang auch, und einige dieser Substanzen wurden zugelassen und auch als hochwirksam gelobt. Allerdings ergaben sich bei manchen auch extrem starke Nebenwirkungen, vor allem Todesfälle aufgrund von Herzversagen, so dass manche wieder ihre Zulassung verloren. Bekannt ist noch der Skandal um Vioxx von Merck – einem Cox2-Hemmer. In England machen NSAIDs 5% aller Verschreibungen überhaupt aus, 16.500 Tote durch Nebenwirkungen gehen auf ihre Rechnung und in den USA über 100.000 Hospitalisierungen [6].

Also: NSAIDs, die im wesentlichen Cox-Hemmer sind, werden von der Richtlinie zur Behandlung chronischer Schmerzen empfohlen; das sei von der Literatur gestützt.

Das Literaturverzeichnis, das ist der Nachteil bei dieser Richtlinie, ist so dick, dass es nicht mitpubliziert wurde; nicht jeder hat, wie ich, eine Majella bei der Hand, die dieser Literatur durch das Dickicht des Internets nachläuft. Wir haben das getan und die Literaturliste heruntergeladen und durchforstet. Folgt man den Zitaten, bezieht sich die Richtlinie auf 5 Studien, in Worten: fünf [3,4,6-8]. Und nicht vergessen: wir sprechen von der Behandlung chronischer Schmerzen, insbesondere Rückenschmerzen. Sehen wir uns die Daten genauer an:

Berry und Kollegen (1982) teilten 37 Patienten mit chronischen Rückenschmerzen (in Worten: siebenundreissig) auf drei Gruppen auf. Eine erhielt Placebo und zwei erhielten Naproxen, ein typisches NSAID, oder eine mittlerweile aufgegebene Substanz, Difluisal. Schätzen Sie mal wie lange behandelt wurde? Bedenken Sie: wir reden von chronischen Rückenschmerzen. Nein, nicht 6 Wochen, auch nicht 4, sondern 2. Das Ergebnis: Naproxen wirkt besser als die beiden anderen Substanzen, Difluisal ist nicht besser als Placebo. Die Schmerzen bessern sich. Langzeiteffekt? Unbekannt. Langzeitnebenwirkungen? Nicht getestet. Teilen Sie mal 37 durch 3. Dann werden Sie sehen: so rasend viele Patienten wurden da nicht untersucht. Was meinen Sie: Ist das eine gute Datenbasis für Generalisierungen? Ist das eine gute Datenbasis für Langzeitanwendung an vielen Patienten, nicht nur über 2 Wochen, sondern vielleicht über 2 oder mehr Jahre?

Driessens und Kollegen (1994) untersuchten an 30 chronischen Rückenschmerzpatienten über 2 Wochen die Wirksamkeit von Ibuprofen, eines relativ bekannten Schmerz- und Entzündungsmittels, und verglichen das mit Diclofenac, einem anderen typischen Cox-Hemmer; Placebo- oder Nichtbehandlungskontrolle gab es nicht. Aus der Diclofenacgruppe zogen sich 6, aus der Ibuprofengruppe 4 Patienten wegen Nebenwirkungen zurück; ansonsten waren die Verläufe ähnlich. Das ist eine Nebenwirkungsquote von 40% in der Diclofenac- und ca. 25% in der Ibuprofengruppe. Wiederum: wir wissen nichts über Langzeiteffekte.

Die anderen drei Studien untersuchten Cox2 Hemmer. Diese Studien waren alle relativ gross (700, 400, 300 Patienten) und untersuchten auch relativ lange (4 Wochen bis 3 Monate), einen Cox2 Hemmer, manchmal in zwei Dosierungen gegen Placebo. Die Medikamente sind alle wirksam. Der Nachteil: zwei der drei Studien untersuchten einen Cox2 Hemmer, der bereits bevor die Richtlinien publiziert worden waren wieder vom Markt genommen worden war, weil die Nebenwirkungen zu gross waren.

Es gibt also noch drei Studien, so scheint es, die den Einsatz von NSAIDs, wie gesagt die meistgebrauchten Medikamente bei chronischen Schmerzen, stützen. Von denen sind zwei Studien winzig und sehr kurz, geben keine Auskunft über Langzeitwirkungen und können schon von ihrer Anlage her wenig Auskunft über Nebenwirkungen geben. Und wo sie es tun, findet man einen hohen Prozentsatz solcher Nebenwirkungen. Die dritte Studie geht über drei Monate. Wir wissen immer noch nicht, was passiert, wenn chronische Schmerzpatienten solche Arzneimittel länger nehmen. Solche Daten liegen nicht vor bzw. werden von der Leitlinie nicht zitiert.

Sieht man sich die Einschlusskriterien der Studien an so findet man, dass Patienten mit anderen Krankheiten – Depression, Angst, anderen körperlichen Erkrankungen – nicht mit aufgenommen worden waren. Die Generalisierbarkeit der Ergebnisse ist also eingeschränkt.

Aber Moment mal. Kann das wirklich sein, dass diese fünf Studien alles ist was wir haben? Doch wohl eher nicht, werden Sie denken. Und Sie haben Recht. Denn wenn man ein bisschen stöbert – und da habe ich dann auch aufgehört, weil es ausreichend ist – dann findet man:

Im Jahre 2000 wurde ein hochkompetenter Überblick im Rahmen der Cochrane-Collaboration publiziert [2]. Das ist eine Gruppe von Wissenschaftlern, die es sich zum Ziel gemacht hat, das vorhandene Wissen aus Studien in systematischer Weise aufzuarbeiten, zur Verfügung zu stellen und auch zu bewerten. Diese Arbeit stellt fest: immer noch (Damals, im Jahr 2000!) gehören NSAIDs zu den meist gebrauchten Substanzen, obwohl ihre Wirksamkeit nicht ausreichend (!) belegt sei. Diese Überblicksarbeit fasst 53 Studien zusammen, u.a. auch die beiden früheren, die von den Guidelines zitiert werden. Sie kommt zu dem Schluss: NSAIDs sind zur Behandlung chronischer Rückenschmerzen ungeeignet, weil sie unwirksam sind. Dieser Befund spiegelt einen früheren wieder [5], der zum Schluss kommt, solche Substanzen seien nur kurzfristig, also ca. 2 Wochen wirksam und für die Behandlung chronischer Schmerzen nicht geeignet.

Berücksichtigen die Richtlinien diese Befunde? Nein. Warum nicht? Gute Frage. Was meinen Sie?

Dieser Befund ist erschreckender, als ich das selbst in meinen kühnsten Träumen erwartet hätte. Da werden Substanzen verwendet, die meistgebrauchten überhaupt, bei dem Syndrom das am meisten vorkommt. Es wurden zig Studien dazu durchgeführt. Wenn man sie überblickt zeigt sich: Die Substanzen wirken gar nicht gut genug. Aber die neuesten Richtlinien empfehlen sie trotzdem, und alle nehmen sie ein, und riskieren viele Nebenwirkungen. Was heisst das?
Zum einen bedeutet dies doch offensichtlich, dass in der Praxis die vermeintliche Wissenschaftlichkeit der medizinischen Tätigkeit doch weniger stark ist, als man gemeinhin so denkt. Das hat übrigens auch eine grossangelegte Praxisstudie in England herausgefunden [9], die zeigt, dass Allgemeinpraktiker wissenschaftliche Information nur als eine von vielen Informationsquellen verwenden. Viel wichtiger ist informelle Information: Beispiele und Tips von Kollegen und ihre eigene Erfahrung.

Das bedeutet zum anderen, dass die viel beschworene wissenschaftliche Evidenz gar nicht so ernst genommen wird, wie man denkt. Wir alle stehen unter einer Dunsthaube: wir meinen, was so an wissenschaftlicher Medizin verkauft wird, basiert auf reinsten wissenschaftlichen Daten. Wie wir an diesem Beispiel sehen, stimmt das offenbar nicht immer. Woher kommt das? Ich vermute, das liegt an verschiedenen Vormeinungen und Interessen. Wir alle denken, Medikamente wirken. Dafür sind sie ja schliesslich da. Tun sie auch, in gewissen Grenzen. Diese Grenzen werden aber oft überstrapaziert, wie wir am Beispiel der NSAID-Therapie und chronischen Rückenschmerzen sehen. Aber davor verschliessen alle geflissentlich die Augen.

In diesem konkreten Falle würde ein Ernstnehmen der vorliegenden Daten schon helfen und wir würden nie im Traum auf die Idee kommen, NSAIDs zur Therapie chronischer Schmerzen zu empfehlen. Der englische Regulator, NICE (National Institute for Clinical Excellence) hat dies übrigens gesehen und empfiehlt in seiner neuesten Richtlinie Bewegung, Manipulation und Mobilisation, sowie Akupunktur als die einzig wirksam Massnahmen.

Was lernen wir daraus? Auch medizinische Qualitätssicherung und Leitlinien beheben die Entscheidungsnot nicht. Eine Untersuchung hat kürzlich gezeigt: es gibt so viele Leitlinien die sich widersprechen – und von diesen so viele einzelne, dass sie niemand mehr zur Kenntnis nimmt und genau das Gegenteil von dem erzeugt wird, was man haben will, nämlich anarchistisches Verhalten [10]. Aber das nur am Rande.

Was heisst das methodisch? Die vielbeschworene EBM-Pyramide funktioniert in der Praxis gar nicht. Zum einen sind die Studien nicht so zahlreich, wie man denkt. Zum anderen werden die Ergebnisse dann, wenn sie einem nicht in den Kram passen, offenbar ignoriert. Warum ist das so? Vielleicht auch deswegen, weil es andere Informationsquellen gibt, die Ärzte und Patienten nutzen, die sie implizit wichtig finden, und die in den formalisierten Studien nicht abgebildet sind. Meine Vermutung ist: Ärzte (und Patienten) haben implizit ein anderes Erkenntnismodell vor Augen und die Vorschrift von der Evidenzhierarchie der EBM ist genau das, was sie ist: eine Vorschrift. Und Vorschriften haben es so an sich, dass sie gerne ignoriert oder übertreten werden, vor allem wenn sie unvernünftig sind.

Ich behaupte: Im Prinzip haben wir Menschen ein implizit multiples und zirkuläres Erkenntnismodell vor Augen. Wir nutzen vielfältige Informationsquellen und es ist unnatürlich, sich nur auf eine zu stützen. Aus diesem Grund allein schon kann die EBM-Methode der hierarchischen Erkenntnisgewinnung nicht funktionieren. Aber es gibt auch noch methodische Gründe, weswegen ein anderer Ansatz besser ist. Dazu dann in den folgenden Kapiteln.

Literatur:

  1. Task Force on Chronic Pain Management: Practice guidelines for chronic pain management. Anesthesiology 2010;112:810-833.
  2. van Tulder MW, Scholten RJPM, Koes BW, Deyo RA: Nonsteroidal anti-inflammatory drugs for low back pain. Spine 2000;25:2501-2513.
  3. Katz N, Ju WD, Krupa DA, Sperling RS, Rodger DB, Gertz BJ, Gimbel J, Coleman S, Fisher C, Nabizadeh S, Borenstein D, Group VCLBPS: Efficacy and safety of rofecoxib in patients with chronic low back pain. Results from two 4-week, randomized, placebo-controlled, parallel-group, double-blind trials. Spine 2003;28:851-859.
  4. Birbara SA, Puopolo AD, Munoz DR, Sheldon EA, Mangione A, Bohidar NR, Geba GP, Group EPS: Treatment of chronic low back pain wtih etoricoxib, a new cyclo-oxygenase-2 selective inhibitor: improvementi n pain and disability – a randomized, placebo-controlled, 3 month trial. Journal of Pain 2003;4:307-315.
  5. Koes BW, Scholten RJPM, Mens JMA, Bouter LM: Efficacy of non-steroidal anti-inflammatory drugs for low-back pain: a systematic review of randomised clinical trials. Annals of the Rheumatic Diseases 1997;56:214-223.
  6. Coats TL, Borenstein DG, Nangia NK, Brown MT: Effects of Valdecoxib in the treatment of chronic low back pain: Result of a randomized, placebo-controlled trial. Clinical Therapeutics 2004;26:1249-1260.
  7. Driessens M, Famaey J-P, Orloff S, Chochrad I, Cleppe D, de Brabanter G, Ginsberg F, Mindlin A, Soenen M: Efficacy and tolerability of sustained-release ibuprofen in the treatment of patients with chronic back pain. Current Therapeutic Research 1994;55:1283-1292.
  8. Berry H, Bloom B, Hamilton EBD, Swinson DR: Naproxen sodium, diflunisal, and placebo in the treatment of chronic back pain. Annals of the Rheumatic Diseases 1982;41:129-132.
  9. Gabbay J, le May A: Evidence based guidelines or collectively constructed “mindlines”? Ethnographic study of knowledge management in primary care. British Medical Journal 2004;329:1013-1017.
  10. Carthey J, Walker S, Deelchand V, Vincent C, Griffiths WH: Breaking the rules: understanding non-compliance with policies and guidelines. British Medical Journal 2011;343:d5283.