“Sowohl als auch” statt “entweder-oder” – oder: wie man Kategorienfehler vermeidet

„Was ist tiefer: Teller oder Tasse?“, fragte neulich wer. Nach einigem Nachdenken sagte ich: „Naja, kommt drauf an, wie tief der Teller oder die Tasse wirklich sind, nicht wahr?“ „Falsch“, sagte der Schlaumeier. „Die Oder“. Klar. Egal wie tief eine Tasse oder ein Teller sind, die Oder, also der Fluss, an dem Frankfurt (Oder) liegt, wo ich arbeite, ist immer noch tiefer.

Der Witz – der natürlich gesprochen besser funktioniert als geschrieben – macht sich eine implizite Denkgewohnheit zu Nutze. Wir denken sehr häufig in den ausschließlichen Kategorien „entweder–oder“. Dabei übersehen wir das mögliche Dritte, Vierte, oder Fünfte. Darauf will ich ein bisschen Aufmerksamkeit und Zeit verwenden, weil mich das schon lange umtreibt.

Das Denken in sich gegenseitig ausschließenden Kategorien ist ein Grundprinzip der Logik und geht auf Aristoteles zurück, der vermutlich auf andere Vorläufer zurückgegriffen hat. Jedenfalls: Aristoteles hat die logischen Prinzipien zum ersten Mal weithin wahrnehmbar formuliert und begründet. Das „Entweder-Oder“ ist ein Ausdruck des Satzes vom Widerspruch: „Etwas kann nicht, in der selben Hinsicht, zum selben Zeitpunkt, und am selben Ort sein und zugleich nicht sein.“ So lautet eine Version, die Aristoteles in seiner „Metaphysik“ formuliert hat, also dem Buch, das er der Wissenschaft vom Seienden widmete. Gleichzeitig formuliert die Logik damit auch ein Prinzip der Wahrheit der Aussagelogik. Aristoteles wusste das sehr genau und beschrieb Wahrheit als eine Eigenschaft von Sätzen. Zunächst. Er hat auch noch eine „tiefere“ Wahrheit beschrieben, die man als Wahrheit des Seins ansprechen kann. Da dürfte er sich auf seinen Lehrer Platon bezogen haben.

Aristoteles hat die logischen Prinzipien zum ersten Mal weithin wahrnehmbar formuliert

Nun ist folgende Unterscheidung wichtig: Der Satz vom Widerspruch, der die Basis der Logik und damit der Wahrheit von Sätzen darstellt, ist auch nur auf solche Sätze anwendbar und nicht auf das Sein als Ganzes. Wir können z.B. in aller Regel über die Wahrheit von Sätzen entscheiden, indem wir logische Prinzipien anwenden. Wenn wir etwa sagen: „jetzt regnet es“, dann ist der Satz richtig, wenn es regnet und falsch, wenn es nicht regnet. Oder wenn wir sagen: „Heute hat Bernd ein rotes Hemd an“ oder „Emma hat ein blaues Auto“, dann sind die Sätze dann richtig, wenn Bern ein rotes Hemd hat und Emma ein blaues Auto. Entweder hat Emma ein blaues Auto, oder sie hat eben kein blaues Auto, etwa weil sie gar kein Auto hat oder das Auto grün ist.

Auf dieser Einsicht, dass Sätze in der Regel Strukturen beschreiben, denen man eindeutig eine Eigenschaft zuordnen kann – z.B. durch das Feststellen der Eigenschaften über unsere Wahrnehmung – beruht unsere ganze Wissenschaft. Daher ist Logik auch so wichtig und ein solch starkes Instrument. Indem man nämlich logisch und empirisch analysiert, ob Sätze richtig oder falsch sind, kann man etwa über Sinn und Unsinn, Wahrheit und Falschheit in einem bestimmten Sinne sehr gut entscheiden (Für Spezialisten: ich lasse jetzt mal den Unterschied zwischen empirischen und analytischen Sätzen außer Acht; in meinem Wissenschaftstheoriebuch habe ich das ausführlicher dargestellt [1]).

Nun kommt eine wichtige Unterscheidung: Sätze, über die man logisch und empirisch entscheiden kann, beschreiben in aller Regel vor allem die Oberflächenstruktur der Wirklichkeit, also diejenige, die uns zunächst unmittelbar gegeben ist, etwa unserer Sinneswahrnehmung oder unserem Denken. Aber dies ist nicht die ganze Wirklichkeit. Die Wirklichkeit als Ganzes ist in aller Regel komplexer und lässt sich genau nicht mit solchen logischen Instrumenten komplett analysieren und handhaben.

Die Wirklichkeit als Ganzes ist komplexer und lässt sich genau nicht mit solchen logischen Instrumenten komplett analysieren

Das ist auch der Grund, weswegen die antiken Philosophen, Aristoteles und Platon auf jeden Fall, und mit ihnen die philosophische Tradition bis hin zu Wittgenstein, zwischen unterschiedlichen Typen von Wahrheit und von Sätzen unterschieden haben. Seinswahrheit zeigt sich eben nicht in logisch zu entscheidenden Sätzen. Und auch Wittgenstein schließt seinen Tractatus logico-philosophicus immerhin mit der berühmten kryptischen Wendung „Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen“. Davor führt er noch einen Satz an, der ein Zitat aus Meister Eckhart ist: Man muss die Leiter hinabstossen, wenn man an ihr hinaufgestiegen ist [2]. Damit zeigt auch dieser Philosoph, dessen Text zum Inbegriff des logischen Positivismus und zur Inauguration der wissenschaftlich-logischen Fachsprache geworden ist, dass er verstanden hat, dass einfach logisch zu entscheidende Sätze nicht die ganze Wirklichkeit abbilden, sondern nur einen Teil. Später ging er dann, wie wir wissen, weit darüber hinaus, aber das lassen wir jetzt mal auf sich beruhen.

Weil Wissenschaft so wichtig und so mächtig geworden ist, weil wir ihr und der mit ihr weit verbreiteten Logik so viel verdanken, weil so viele Strukturen unserer Welt tatsächlich dieser Logik folgen, ja weil unser Überleben als Art davon abhängig war, dass wir diesen logischen Operator, wie ihn manche Biologen und Hirnforscher nennen, so gut ausgeprägt haben, daher ist die Gefahr groß dass wir nun alles, das ganze Leben, alle Begegnungen, die ganze Welt, ja das Sein schlechthin, so behandeln. Und das ist, wie wir sehen werden, ein großer Fehler. Biologisch ist es sinnvoll zu unterscheiden zwischen „essbar – nicht essbar“, „gefährlich – nicht gefährlich“, „sicher – nicht sicher“, „Beute – nicht Beute“, „Angreifer – kein Angreifer“. Das hilft beim Überleben. Diese rasche Kategorisierung lernen wir auch in der Schule, im Studium, im Beruf. Unsere rapide IT-Technik-Entwicklung hat dieses Denken beschleunigt. Denn alle Computer beruhen auf diesen logischen Operationen, den ausschließlichen Operationen: entweder ist ein Argument wahr, oder nicht. 1 oder Null. Was anderes gibt es für den Computer nicht. Das verleitet dazu zu denken, dass alles so ist. Das ganze Leben.

Weil unser Überleben als Art davon abhängig war, dass wir diesen logischen Operator so gut ausgeprägt haben ist die Gefahr groß dass wir nun alles so behandeln.

Und nicht wenige Menschen kommen in die Bredouille, weil sie nicht verstehen, dass zweiwertige Logik, wie sie auch heißt (weil sie eben nur zwei Werte kennt, wahr, oder falsch, ja, oder nein), ein Hilfsmittel im Umgang mit Sätzen ist, die die Wirklichkeit aus einer bestimmten Perspektive beschreiben – und nicht für die Wirklichkeit schlechthin. Warum nicht?

Das ist einfach:
Die Wirklichkeit an sich ist eben komplexer als das einfache „entweder-oder“ vermuten lässt.

Anders ausgedrückt:
Mit Logik können wir nicht alle Probleme des Lebens lösen.

Nochmals anders ausgedrückt:
Wissenschaft ist auch nur eine von vielen Arten mit der Welt umzugehen.

Und nochmal ganz anders:
Vor allem komplexe Strukturen und all jene Strukturen, die zunächst nicht zum unmittelbaren Überleben nötig sind und taugen, lassen sich nicht immer mit dem Raster der Logik ordnen und behandeln.

Das Leben an sich ist eben nicht zweiwertig, sondern mehrwertig. Die moderne Wissenschaft hat das auch verstanden und hat daher eine Denkfigur aufgegriffen, die es in der Antike schon gab. Ich habe sie versuchsweise als Komplementarismus bezeichnet [1]. Sie äußert sich im „sowohl – als auch“. Nils Bohr hat den Begriff der Komplementarität in die Physik eingeführt. Er hat ihn im übrigen aus der Psychologie seiner Zeit importiert und zwar u.a. von seinem Freund, dem Wahrnehmungspsychologen Rubin, der die berühmten Kippbilder entwickelt hat. Bohr hat schon relativ bald gesehen, dass er nicht nur auf physikalische Gegenstände anwendbar ist, also auf Quanten oder Elektronen, sondern wohl auch in anderen Bereichen nützlich ist [3,4; hier sind die originalen Überlegungen Bohrs zu finden; 5 gibt einen guten Einblick in die Historie]. Bohr war etwa der Meinung, dass nicht nur Gegenstände der Physik davon profitieren, wenn wir sie unter dem Gesichtspunkt der Komplementarität erfassen, sondern dass es auch in der Psychologie komplementäre Verhältnisse gäbe – Gefühl und Denken, bewusst und unbewusst, waren seine Beispiele -, aber auch in der Erkenntnistheorie und in der Ontologie. Leib und Seele, Denken und Intuition wären Beispiele aus anderen Bereichen, die man sinnvoller Weise durch den Begriff der Komplementarität umschreiben könnte.

Bohr war etwa der Meinung, dass es auch in der Psychologie komplementäre Verhältnisse gäbe.

Zurückgreifend auf Bohr und über ihn hinausgehend können wir verallgemeinern, jedenfalls wäre das meine Behauptung: überall, wo wir es mit Menschen zu tun haben und mit menschlichen Produkten, Prozessen, Verhalten und Erleben, also im gesamten Bereich der Psychologie, aber wohl auch der Kunst, der Literatur, der Soziologie, der Politik, der Geschichte, überall dort, ist der Begriff der Komplementarität nicht nur sinnvoll, sondern sogar nötig. Denn der Mensch selber ist ein komplementäres Wesen: er besteht aus physischen und mentalen Ereignissen zugleich und gleichzeitig.

Er hat körperliche und seelische Seiten, Leib und Seele, Geist und Gehirn. Und diese beiden Größen sind weder aufeinander reduzierbar noch ineinander überführbar, noch sind sie das selbe. Das abzuhandeln, würde jetzt zu weit führen, aber davon gehe ich im folgenden einfach aus (genauer besprochen ist das in [1] und [6-8]).

Ich habe jetzt implizit einen Definitionsversuch gemacht: Komplementarität bedeutet, dass wir zur Beschreibung einer Sache, mehrere, mindestens zwei sich ausschließende Perspektiven oder Beschreibungsweisen benötigen, die nicht ineinander überführbar sind, die nicht aufeinander reduzierbar sind und die dennoch in aller Regel gleichzeitig auf diese Sache anzuwenden sind. Und wir sehen: dies widerspricht der gängigen Logik von „entweder–oder“, oder dem Satz vom Widerspruch.

Fälle und Situationen, in denen Komplementarität angewandt werden muß, um sie zu begreifen, können nicht mit Logik gelöst werden. Tut man es doch, begeht man einen Kategorienfehler.

Fälle und Situationen, in denen Komplementarität angewandt werden muß, um sie zu begreifen, können nicht mit Logik gelöst werden. Tut man es doch, begeht man einen Kategorienfehler. Das ist das, was eine reduktive Neurowissenschaft dauernd tut, wenn sie behauptet, Geist sei nichts anderes als neuronale Entladungen. Geist und neuronale Entladungen sind Prozesse, die unterschiedlichen kategorialen Ebenen angehören, so ähnlich wie „blau“ und „laut“ unterschiedlichen Kategorien oder Aussagesystemen zugehörig sind, nämlich dem der Farben und dem der Lautstärke. Man kann Farben, und zwar deren Qualität, nicht in Lautstärke ausdrücken. Wenn einer sagt: „der blaue Himmel war laut“, dann gehen wir entweder davon aus, dass wir in der Psychiatrie sind, oder es mit einem – vermutlich schlechten – Gedicht- oder Prosafragment zu tun haben, oder dass jemand die deutsche Sprache nicht richtig beherrscht.

Bei der Aussage „Geistige Vorgänge sind neuronale Entladungen“ fällt das nicht so auf, weil eine Mehrheit von Neurowissenschaftlern das behauptet und dadurch entsteht suggestiver Sog. Das macht die Aussage aber trotzdem nicht wahrer und führt allemal zu Kategorienfehlern, wie Hoche sehr klar gezeigt hat [9]. Ich habe die ganze Argumentation etwas ausführlicher anderswo dargestellt, und vertiefe sie daher an dieser Stelle nicht [10].

Geist und neuronale Entladungen sind Prozesse, die unterschiedlichen kategorialen Ebenen angehören, so ähnlich wie „blau“ und „laut“.

Denn mir geht es jetzt vor allem um folgendes: Komplementarität ist eine Option, mit solchen komplexen Situationen umzugehen. Der Mensch ist ein Wesen, bei dem Komplementarität zur Beschreibung und zum Verständnis häufiger hilft als Logik. Leib und Seele, geistige und materielle Prozesse sind komplementäre Beschreibungsweisen ein und der selben Sache, nämlich des Menschen. Wir können nicht das eine aufs andere reduzieren, oder in das andere überführen. Man kann einen Aspekt ausblenden, um die Komplexität zu reduzieren. Neurowissenschaftler tun das, wenn sie nur das Funktionieren des Gehirns untersuchen, und Geisteswissenschaftler machen das gleiche, wenn sie nur die Produkte der geistigen Produktion unter die Lupe nehmen, ohne sich um die materielle Basis zu kümmern. Solange wir nicht vergessen, dass es beider Seiten bedarf, macht das auch nichts.

Aber die Konsequenz aus dieser Situation ist von Bedeutung. Immer, wenn wir es mit Situationen oder Prozessen zu tun haben, die nach einer komplementären Betrachtung verlangen, dann hilft uns die Logik alleine nicht weiter. Dann müssen wir Sätze und Aussagesysteme verbinden, die zwar in sich selbst logisch stimmig sein müssen, die aber sich gegenseitig zu widersprechen scheinen. Die Kurzformel dafür ist: „sowohl als auch“. Ich sagte, das wird immer dann der Fall sein, wenn wir es mit dem Menschen oder der gesamten Wirklichkeit zu tun haben.

Viel Leid in Beziehungen und in Konflikten rührt daher, dass wir fälschlicherweise logische Strukturen anwenden, wo komplementäre Betrachtungsweisen gefragt sind.

Hier sind ein paar praktische Beispiele:
Viel Leid in Beziehungen und in Konflikten rührt daher, dass wir fälschlicherweise logische Strukturen anwenden, wo komplementäre Betrachtungsweisen gefragt sind. Streit entsteht, wenn eine Meinung auf eine andere prallt und beide aus ihrer je eigenen Sicht recht zu haben scheinen, die Sichtweisen sich aber ausschließen. Nur, wenn man einen Standpunkt einnehmen kann, der beide Sichtweisen anerkennt, ist eine Lösung denkbar. Das wird in einem alten jüdischen Witz schön ausgedrückt:

„Streiten sich zwei Rabbinerschüler und kommen zu ihrem Lehrer. Der eine trägt seine Meinung vor. Sagt der Lehrer: Du hast recht. Trägt der andere seine Meinung vor: Sagt der Lehrer zu ihm: Ja, du hast auch recht. Tritt ein Dritter dazwischen und sagt: Aber Rabbi, du hast dem einen Recht gegeben, und seine Meinung ist das Gegenteil des anderen. Und dem hast du auch Recht gegeben. Das geht doch nicht! Das widerspricht sich doch! Sagt der Rabbi zum Dritten: Ja, du hast auch recht.“

Gute Therapeuten, gute Lehrer, gute Vermittler wenden das Komplementaritätsprinzip implizit an, wenn sie eine Perspektive suchen, aus der beide sich anscheinend ausschließende Betrachtungsweisen der Konfliktparteien gleichberechtigt erscheinen können.

„Sowohl als auch“ ist auch das Prinzip der Kreativität. Sie besteht ja bekanntlich u.a. darin, dass nicht kategorial Zusammengehörendes in Beziehung gesetzt wird. Dies macht den Reiz der dichterischen Sprache aus. Oder mancher bildnerischen Kunst. Wenn etwa Andy Galsworthy Naturgegenstände so ordnet, wie sie von selber praktisch nie, oder allenfalls unter höchst unwahrscheinlichen Umständen zusammenkommen würden, dann entsteht etwas, das künstlich und natürlich, geordnet und gewachsen zugleich aussteht. Oder wenn Urs Wehrli „Kunst ordnet“ und die geometrischen Figuren von Klee nach Farbe und Größe sortiert, oder Autos auf einem Parkplatz nach Farbe, dann entstehen völlig unerwartete Perspektiven, weil Ordnung und Chaos in ein neues Verhältnis gebracht werden.

„Sowohl als auch“ ist das Prinzip des Menschlichen, würde ich behaupten. Meine Heimatwissenschaft, die Psychologie, würde gut daran tun, das zu beherzigen und weiterhin mit einer Vielfalt von Methoden arbeiten – sowohl mit quantitativen, als auch mit qualitativen -, in der Therapie sowohl mit strukturierenden als auch mit aufdeckenden Verfahren, usw. Geistes- und Naturwissenschaft, Spiritualität und Religion, Form und Inhalt, Struktur und Prozess, all das sind nur einige Beispiele für komplementäre Begriffspaare.

„Sowohl als auch“ ist das Prinzip des Menschlichen

Man kann auch noch einen Ausflug in die Theologie unternehmen. Die Texte des Neuen Testamentes sind ja bekanntlich voll von Widersprüchen. Darauf hat schon Abaelard im Mittelalter hingewiesen und das wurde von modernen Religionskritikern immer wieder aufgegriffen, die diese logische Inkonsistenz für ein Zeichen von Falschheit hielten. Diese Argumentation übersieht folgendes: die Texte des Neuen Testamentes, wie im übrigen alle religiösen Texte, versuchen, die Mehrwertigkeit der Wirklichkeit zu beschreiben. Daher operieren sie nicht nur mit Bildern, sondern auch mit unterschiedlichen sprachlichen Typen und auf jeden Fall nicht mit Sätzen, auf die die Kategorien der Logik anwendbar sind.

Die antike Theologie hat das klar erkannt und daher Denkformen gewählt, die diese Sicht fassen konnten, etwa die neuplatonische Philosophie. Reich hat darauf hingewiesen, dass die dogmatische Formulierung des Konzils von Chalcedon im Jahre 451 ein Ausdruck komplementaristischen Denkens war, die dem historischen Jesus Menschlichkeit und Göttlichkeit zugleich zusprach [12].

Auch in anderen Religionen finden wir diese Struktur wieder, wenn etwa das Herz-Sutra, ein Kerntext des Mahayana-Buddhismus, davon spricht dass Form und Leere eins sind – Form ist Leere, Leere ist Form -, dann sagt es dies nicht deswegen, weil die Autoren des Textes nichts von Logik verstanden haben, sondern weil damit die Mehrwertigkeit des Seins schlechthin zum Ausdruck kommt, die eben genau nicht mit Logik fassbar ist, sondern andere Formen benötigt.

Daher legen auch die Koans des Zen-Buddhismus das logisch-analytische Denken lahm, um einer anderen Wirklichkeitserfahrung Raum zu geben. Und deswegen sind in vielen religiösen Traditionen Aussagen über die letzte Wirklichkeit verboten. Denn sie würden zu einseitigen Festlegungen führen, die die Versuchung nahelegen würden, man könne sich dieser Wirklichkeit mit Instrumenten der Aussagelogik nähern.

Deswegen sind in vielen religiösen Traditionen Aussagen über die letzte Wirklichkeit verboten.

Ich glaube, wir würden uns viele Probleme im Leben ersparen, wenn wir weniger häufig „entweder–oder“ sagen würden und stattdessen „sowohl als auch“. Probieren Sie es mal aus. Dahinter steckt, formal gesehen, die Einsicht, dass logische Strukturen nur auf Sätze anzuwenden sind, das Leben selber aber, vor allem wir Menschen, eben nicht auf solche Strukturen reduzierbar sind.

Daher müssen wir lernen, komplementäres Denken mehr anzuwenden.

Das Neue daran ist übrigens, dass wir, anders als bei der Dialektik, die Gegensätze nicht einfach in eine höhere Einheit bringen. Sondern sie sind und bleiben konstitutiv. Der Mensch ist zwar die Vereinigung leiblicher und geistiger Prozesse. Aber sie bleiben in ihrer Verschiedenheit bestehen und sind, als verschiedene, im Menschen verbunden. [12]

Das Neue am komplementären Denken ist übrigens, dass wir, anders als bei der Dialektik, die Gegensätze nicht einfach in eine höhere Einheit bringen.

Komplementäre Gegensätze sind übrigens auch qualitativ verschieden von logischen Widersprüchen oder kontradiktorischen Gegensätzen. Kontradiktorische Gegensätze sind solche, die sich sozusagen auf der gleichen Ebene befinden. Man kann durch die Verneinung des Gegensatzes wieder das Ursprungsargument erzeugen: A # B (A ist nicht gleich B) kann ich unter bestimmten Bedingungen auch schreiben als A = ~B ( A ist das gleiche wie die Verneinung von B, z.B. „hell ist die Aufhebung der Verdunkelung“). Genau das geht mit komplementären Gegensätzen nicht. Denn sie sind semantisch und sachlich auf anderen Ebenen angesiedelt.

Daher sind auch logisch-analytisches Denken und das Denken in komplementären Gegensätzen selber wiederum zueinander komplementär. Erst wenn man beides beherrscht, und wenn man weiß, wo man das eine und wo man das andere anwenden muss, erst dann kommt man der Wirklichkeit nahe. Und das ist im Übrigen genau die Gesamtheit des Denkens, die auch die antiken Philosophen im Blick hatten.

Wir erreichen das also, wenn wir öfter „sowohl als auch“ sagen und denken, und die Logik dort lassen, wo sie hingehört: bei der Analyse von Sätzen, die Aussagen über einen einzigen kategorialen Bereich machen.

Quellen, Literatur und Anmerkungen
[1] Walach, H. (2013, orig. 2005). Psychologie: Wissenschaftstheorie, philosophische Grundlagen und Geschichte (3. überarb. Aufl. ed.). Stuttgart: Kohlhammer.
[2] Wittgenstein, L. (1980). Tractatus logico-philosophicus – Logisch-philosophische Abhandlung. Frankfurt: Suhrkamp.
[3] Bohr, N. (1966). Atomphysik und menschliche Erkenntnis. Braunschweig: Vieweg.
[4] Bohr, N. (1997). Collected Works. Vol. 6: Foundations of Quantum Physics I (1926-1932). Amsterdam, New York: North Holland.
[5] Rosenfeld, L. (1961). Nils Bohr. Amsterdam: North Holland.
[6] Römer, H., & Walach, H. (2011). Complementarity of phenomenal and physiological observables: A primer on generalised quantum theory and its scope for neuroscience and consciousness studies. In H. Walach, S. Schmidt & W. B. Jonas (Eds.), Neuroscience, Consciousness and Spirituality (pp. 97-107). Dordrecht: Springer.
[7] Walach, H. (2012). Komplementarität: Rahmen für eine Wissenschaftstheorie der Psychologie. In G. Gödde & M. B. Buchholz (Eds.), Der Besen, mit dem die Hexe fliegt. Wissenschaft und Therapeutik des Unbewussten. Bd. 1: Psychologie als Wissenschaft der Komplementarität (pp. 301-326). Giessen: Psychosozialverlag.
[8] Walach, H., & Römer, H. (2000). Complementarity is a useful concept for consciousness studies. A reminder. Neuroendocrinology Letters, 21, 221-232.
[9] Hoche, H.-U. (2008). Anthropological Complementarism. Linguistic, Logical, and Phenomenological Studies in Support of a Third Way Beyond Dualism and Monism. Paderborn: Mentis Verlag.
[10] Walach, H. (2014). Geist in der Flasche – vulgärer Materialismus auf dem Tisch: Kategorienfehler, unbequeme Daten und ein bescheidener Beitrag zum Leib-Seele-Problem. In J. Weinzierl & P. Heusser (Eds.), Was ist Geist? 2. Wittener Kolloquium für Humanismus, Medizin und Philosophie (Band 2) (pp. 85-121). Würzburg: Könighausen und Neumann.
[11] Reich, K. H. (1990). The Chalcedonian definition, and example of the difficulties and the usefulness of thinking in terms of complementarity? Journal of Psychology and Theology, 18, 148-157.
[12] Ob und inwiefern dialektisches Denken und komplementaristisches Denken das gleiche sind oder doch unterschiedliche Denkformen beschreiben ist aus meiner Sicht noch nicht geklärt. Die Struktur ist ähnlich, nämlich Gegensätze als konstitutiv zu sehen. Aber das Ergebnis scheint mir ein anderes zu sein. Während in der Dialektik eine „höhere“ Einheit entsteht, bleiben im komplementaristischen Denken die Gegensätze konstitutiv auch für die Einheit. Aber vielleicht ist diese Sicht einfach nur meiner Unkenntnis geschuldet