„Science Delusion“ – www.SetScienceFree.org: Ein paar Gedanken zu Rupert Sheldrake

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Ich kenne Rupert Sheldrake schon ein ganzes Weilchen; vor kurzem war er auch bei uns in Frankfurt (Oder) zu Gast. Angefangen hat unsere Bekanntschaft, als wir seine Versuche zum Phänomen des „Angeschautwerdens“ kritisierten und darüber ins Gespräch kamen. Ich habe ihn wegen seiner Offenheit, auch gegenüber Kritik, und seiner genuinen Neugier schätzen gelernt. Und ich habe, auch ihm gegenüber, nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich seine Theorie der „morphogenetischen Felder“ für empirisch nicht belegt halte, genauer gesagt, ich glaube sogar, dass die Daten eher gegen ein solches Feldmodell sprechen. Denn es gibt all zu viele Versuche, bei denen genau das Gegenteil dessen, was man erwarten würde herauskam. Aber das würde jetzt zu weit führen. Allerdings gehe ich mit ihm in einigen wichtigen Punkte überein: die Phänomene, von denen er spricht, seien sie jetzt dem Bereich der „Parapsychologie“ zuzurechnen, oder seltsame „Feldphänomene“ in der Biologie, sie verdienen die vermehrte Aufmerksamkeit der Wissenschaft gerade weil sie unserer Erwartung zuwider laufen.

Die Phänomene verdienen die vermehrte Aufmerksamkeit der Wissenschaft gerade weil sie unserer Erwartung zuwider laufen.

Man lernt nämlich mehr aus der Enttäuschung von Erwartung als aus ihrer Bestätigung. Und darin bewundere ich ihn sehr. Er ist konsequent darin, die Finger in die kollektive Wunde des Geistes zu legen, der sich blind für solche Phänomene stellt. Nun, wird man sagen, „ist Dein Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert“. In der Tat, der Rufmord und damit das Ende einer viel versprechenden Karriere kam, als Sheldrake 1981 sein Buch „A New Science of Life“ veröffentlichte [1]. Das wurde übrigens erst vor Kurzem wieder neu aufgelegt, diesmal mit einem langen Anhang empirischer Daten (die ich noch nicht gesichtet habe). In diesem Buch hatte er damals seine Hypothese der „morphogenetischen Felder“ und der „morphischen Resonanz“ vorgestellt. Diese muss man sich vorstellen wie ein elektromagnetisches Feld, nur eben nicht unbedingt materiell (wie genau, das sagt er leider nicht und das ist auch der Streitpunkt).

Immer wenn ein Lebewesen, eine Art, eine Gruppe ein neues Verhalten lernt, so wird das dazugehörige „morphogenetische Feld“ entsprechend verändert, so seine Theorie, und andere Mitglieder der Art oder einer Gruppe können das entsprechende Verhalten anschließend schneller lernen. Ein morphogenetisches Feld wäre also so etwas wie eine dynamisch sich verändernde platonische Idee; das hat Rupert Sheldrake mir übrigens in einem Gespräch mal bestätigt. Weil das entsprechende Feld überall wirkt, können auch Mitglieder einer Gruppe zu anderen Zeiten oder an anderen Orten mit ihm in Resonanz treten, eben in „morphische Resonanz“ und so z.B. rascher lernen. Menschen würden also heute leichter Englisch lernen also noch vor etwa 100 Jahren, einfach weil inzwischen mehr Menschen und an verschiedenen Orten der Erde Englisch gelernt haben. Ein aktuelles empirisches Beispiel ist der Flynn-Effekt: das empirisch belegte Ansteigen der mittleren Intelligenz seit es Intelligenztests gibt. So jedenfalls interpretiert Sheldrake dieses Phänomen. Ansonsten bleibt er ein teilweise nicht erklärtes Phänomen.

Wegen dieser These der morphogenetischen Felder also wurde er vor mehr 30 Jahren gleichsam offiziell aus der Wissenschaftlergemeinde verstoßen, könnte man sagen. Maddox, der damalige Chefredakteur von Nature nannte das Buch „the best candidate for burning there has been in many years“ [2]. Er bemühte damit das hoch problematische Bild eines von Dogmatismus getriebenen Fanals der Bücherverbrennung, und genau darum ging es. Der Rest ist rasch erzählt und lässt sich in Sheldrakes neuem Buch, „The Science Delusion“ [3] im Einführungskapitel detailliert nachlesen: ein hochdotierter, exzellent publizierender Wissenschaftler, der wichtige Entdeckungen gemacht hatte verlor von heute auf morgen die Basis für seine weitere Karriere und musste auf Forschung als Privatgelehrter umsteigen. Das hat er, finde ich, mit bewundernswürdiger Hartnäckigkeit und ausgesprochener Kreativität verfolgt, etwa über seine eindrucksvollen Studien zu Telepathie bei Tieren [4-6] und andere Themen. Eine entsprechende Anekdote habe ich übrigens selbst erlebt [A]

Manche Menschen verwechseln Wissenschaft als Methode zur Gewinnung von Erkenntnissen mit Wissenschaft als Glaubenssystem, zu dem bestimmte „Glaubenssätze“ gehören, die man im weitesten Sinne dem philosophischen Materialismus zuordnen würde.

Nun hat Rupert Sheldrake also ein neues Buch geschrieben, „The Science Delusion“, auf Deutsch als „Der Wissenschaftswahn“, etwas zu reißerisch, betitelt [3]. Denn es geht zwar um eine weitreichende Täuschung, man muss sie aber vielleicht nicht gleich zum Wahn erklären. Kurz gesagt argumentiert er in diesem sehr gut geschriebenen, leicht lesbaren und solide belegten Werk dafür, Wissenschaft und Wissenschaftsglaube auseinander zu halten. Manche Menschen verwechseln Wissenschaft als Methode zur Gewinnung von Erkenntnissen mit Wissenschaft als Glaubenssystem, zu dem bestimmte „Glaubenssätze“ gehören, die man im weitesten Sinne dem philosophischen Materialismus zuordnen würde. So etwa den, dass nur materielles Sein wirklich und relevant ist und geistiges Sein daraus abgeleitet. Oder dass Bewusstsein nur aus der Gehirnaktivität zu erklären ist und daher nur innerhalb unseres Kopfes lokalisiert ist, solange wir leben, und dann erlöscht. Oder dass Gedächtnis nur als materielle Veränderung im Gehirn zu begreifen sei.

Solche Sätze und noch einige mehr identifiziert Sheldrake als moderne „Dogmen“ der Wissenschaft und zwar Dogmen deswegen, weil sie nicht belegt oder bewiesen sind, sondern weil sie als „vernünftig“ oder mit dem „wissenschaftlichen Weltbild kompatibel“ gesehen werden. Ihr Beweis steht in aller Regel aus, wird aber von manchen Enthusiasten in allernächster Zukunft erwartet. Ich bin bei solchen Erwartungen immer skeptisch. Denn bekanntlich hat auch Reagan, als er den „War on Cancer“ ausrief, fabuliert, man würde Krebs in der nächsten Dekade besiegen, oder als man „The Decade of the Brain“ ausrief, man hätte das Gehirn innerhalb der nächsten 20 Jahre verstanden, oder als das menschliche Genom dekodiert worden war, es wäre vorbei mit den schweren Krankheiten, usw. Nichts von alledem traf ein, und so sind auch die Sätze, die Sheldrake als Dogmen isoliert eher Versprechungen und daher eben Glaubenssätze, als wissenschaftlich bewiesene Sätze. Zehn solcher Dogmen isoliert er, dreht sie um, wandelt sie in Fragen um und zeigt, dass sie alles andere als sicher und belegt sind. Im Gegenteil, er findet, sie seien alle bereits widerlegt.

Der Beweis einiger moderner Dogmen steht in aller Regel aus, wird aber von manchen Enthusiasten in allernächster Zukunft erwartet. Ich bin bei solchen Erwartungen immer skeptisch.

Ich gehe jetzt nicht im Detail auf alles ein und finde seine Liste der 10 Dogmen auch eher willkürlich als systematisch. Es fehlt dabei etwas der philosophische Tiefenschnitt, finde ich. Man müsste nämlich die zugrundeliegenden Strukturen, begriffliche, thematische Strukturen, isolieren, dann käme man der Sache näher. So macht er sich unnötig angreifbar, er habe hier einfach seine „pet hate themes“, wie es ein Herausgeber einer wissenschaftlichen Zeitschrift in einer E-Mail mir gegenüber nannte, also seine „Lieblingshassthemen“, aneinander gereiht. Und dieser Vorwurf ist nicht ganz von der Hand zu weisen.

In Einem hat Sheldrake aus meiner Sicht allerdings recht: Wissenschaft und Glaube an die Wissenschaft, „Szientismus“ hatte Husserl das genannt, sind zwei ziemlich verschiedene Paar Stiefel. Viele, insbesondere junge Wissenschaftler, trennen nicht scharf genug, weil diese „Dogmen“ sozusagen en passent vermittelt und selten explizit diskutiert werden. Sie sind eher so etwas wie „absolute presupposition“, stillschweigend angenommene, absolute Voraussetzungen, wie Collingwood solche Strukturen nannte [7]. Sheldrake zeigt nun mit ein paar klug gewählten Gegenbeispielen, dass die von ihm Dogmen genannten Sätze falsch sind.

Dabei ist folgendes wichtig zu bedenken: die Sätze haben wissenschaftslogisch die Struktur von „All-Sätzen“. Sie machen Universalbehauptungen. Und wenn es nur ein gut dokumentiertes Gegenbeispiel gibt, dann sind solche All-Sätze mindestens in ihrem Universalitätsanspruch widerlegt. Und Sheldrake führt eine ganze Reihe gut dokumentierter Gegenbeispiele an. Insofern stimmt es, wenn er sagt, die von ihm benannten Dogmen seien mittlerweile alle widerlegt.

Viele, insbesondere junge Wissenschaftler, trennen nicht scharf genug, weil diese „Dogmen“ sozusagen en passent vermittelt und selten explizit diskutiert werden.

Sheldrake hat seine Thesen vor einem Jahr bei TED vorgestellt (www.ted.com). Dies ist eine Organisation, die „Leute in billigen Hotels unterbringt, sie ohne Honorar Vorträge halten lässt, ihnen eine Plattform bietet und den Vortrag dann über das Internet breit zugänglich macht“, wie Rupert mir erklärt hat. TED-Talks sind daher sehr beliebt und reputiert. Nun war sein TED-Talk über die „Science Delusion“ nur mässig besucht, so an die 40.000 Klicks oder so. Bis sich eine amerikanische Skeptikerorganisation einschaltete und über Internetaktivismus die Veranstalter dazu brachte, den TED Talk von Sheldrake vom Netz zu nehmen. Ein anonymes „Board“ habe entschieden, er würde nicht den Standards entsprechen, hieß es, ohne dass klar wurde, wer dieses Board sei, wer für die Entscheidung gerade stand und um welche Standards es sich genau handeln solle. Das wiederum entfachte den Zorn der Befürworter, und Aktivisten haben den Vortrag bei Youtube erneut hochgeladen, wo er dann um die 400.000 Besuche hatte. Bei TED jedenfalls bleibt sein Vortrag abgesetzt und nicht verfügbar.

Nun passierte aber etwas Interessantes: ein Journalist, Paul Revis, der die Sache recherchiert hatte, war so erbost, dass er eine eigene Kampagne startete: www.SetScienceFree.Org. Dort können Wissenschaftler – nur Ärzte (MDs) und andere Doktoren (PhDs) – dafür eintreten, dass solche Zensur, die dem Mittelalter angehört, endlich aufhört, und dass die verantwortlichen Herausgeber, Gutachter und sonstige Würdenträger des Wissenschaftsgeschäft nicht Wissenschaft mit Materialismus gleichsetzen bzw. zwischen Wissenschaft als Methode und Wissenschaft als Weltanschauung unterscheiden.

Dort können etablierte Wissenschaftler dafür eintreten, dass solche Zensur, die dem Mittelalter angehört, endlich aufhört.

Ich habe die Petition unterzeichnet, und wer zufällig am 2.April, dem Jahrestag der Sperrung von Sheldrakes TED Talk in New York ist, kann sich dem formellen Protest in Person anschließen und dabei sein, wenn die Petition und der Protest dem TED Hauptquartier übergeben wird. Ich finde das eine gute Sache und wollte daher alle meine Blog-Leser bei dieser Gelegenheit auf Petition und Übergabe aufmerksam machen. Vielleicht helfen Sie ja mit bei der Verbreitung?

Selbst wenn Sheldrake inhaltlich nicht mit allem Recht hat, was er sagt, in manchem über die Stränge schlägt und in anderem die Daten ebenfalls selektiv wahrnimmt, wie wir alle: die generelle Stoßrichtung, dass wir mehr Neugier, mehr Freiheit und weniger Dogma brauchen ist auf jeden Fall nicht nur richtig, sondern auch entscheidend für die weitere Entwicklung unserer Gesellschaft. Die Geschichte zeigt: wann immer dogmatisches Denken, das von der Richtigkeit einer Theorie ausging und diese über die Erfahrung stellte, überhand nahm, war es schlecht um die Menschlichkeit, schlecht um die Wissenschaft und schlecht um den Fortschritt bestellt. Ob es sich um kirchliches Dogma im ausgehenden Mittelalter handelte, oder die faschistische oder kommunistische Doktrin, oder ob es szientistische Denkfiguren sind ist der Sache nach einerlei und im Effekt dummerweise sehr ähnlich.

Daher heisst „set science free“ eigentlich: „set ourselves free“.

Lasst uns frei denken und forschen, Scheuklappen und Denkverbote ablegen und aufhören mit irgendwelchen doktrinären Grabenkriegen. Denn nur das, forschen und denken jenseits aller Dogmen, auch der vermeintlich wissenschaftlichen, ist eigentlich Aufklärung. Alles andere verdient nicht den Namen.

Quellen:
[1] Sheldrake, R. (1985, orig. 1981). A New Science of Life. London: Anthony Blond.
[2] Maddox, J. (1981). A book for burning? Nature, 293, 245-246.
[3] Sheldrake, R. (2013). The Science Delusion: Freeing the Spirit of Inquiry. London: Hodder & Stouton.
[4]Sheldrake, R., & Smart, P. (1998). A dog that seems to know when his owner is returning: preliminary investigations. Journal of the Society for Psychical Research, 62, 220-232.
[5] Sheldrake, R., & Smart, P. (2000). A dog that seems to know when his owner is coming home: videotaped experiments and observations. Journal of Scientific Exploration, 14, 233-255.
[6] Sheldrake, R., & Smart, P. (2000). Testing a return-anticipating dog, Kane. Anthrozoös, 13, 203-212.
[7] Collingwood, R. G. (1998, orig. 1940). An Essay on Metaphysics (revised ed.). Oxford: Clarendon Press.

[A] Eine Anekdote zum Thema „mögliche Telepathie bei Tieren“ habe ich selbst erlebt: „Als ich nach England kam, hatte unser Nachbar eine extrem scheue, etwas neurotische Katze, die er von den Vorbesitzern unseres Hauses übernommen hatte. Nach einigen Monaten erzählte der Nachbar, er würde nun nach Nordirland wegziehen. Ich fragte ihn, was er mit der Katze vorhabe. Er werde sie wohl ins Tierheim geben müssen. Ich meinte, er könne sie bei uns lassen. Einige Tage später stand die Katze, die vorher nie auch nur einmal Kontakt mit uns aufgenommen hatte, plötzlich bei uns auf der Matte, schnurrend und kuschelnd und gab uns zu erkennen, dass wir in Zukunft wohl für sie sorgen würden. So blieb es und sie wurde unsere Katze über etwa 3 Jahre. Bis zu dem Zeitpunkt, da ich innerlich die Entscheidung traf, England zu verlassen. Ich hatte noch keine Absprachen getroffen, noch keine Verträge unterschrieben, in der Familie nur selten und sehr vorsichtig darüber geredet, weil ja noch nichts sicher war. Ich hatte noch nicht einmal für meine neue Stelle vorgetragen. Nur eine Entscheidung getroffen, innerlich. Plötzlich war die Katze weg. So rasch, wie sie gekommen war. Unsere Kinder haben sie dann einige Wochen später irgendwo im Quartier bei einer anderen Person im Garten gesehen. Offenbar hatte sie den richtigen „Riecher“ und verschwand, um sich eine bessere Bleibe zu suchen, als es Zeit wurde. Vielleicht war sie auch eine besonders schlaue Katze, die unsere Sprache dekodieren konnte, oder eine sprachbegabte englische Katze und konnte Deutsch, oder extrem gut im Verstehen non-verbaler Zeichen. Wie auch immer. Ich fand diese Geschichte sehr eindrucksvoll und sie hat mich an Rupert Sheldrake’s Hunde erinnert, die bemerkten, wann ihre Besitzer kamen, lange bevor diese auch nur annähernd in der Nähe des Hauses waren.