Medien und Komplementärmedizin

„Ist die Berichterstattung über die Homöopathie fair?“

Anfang November 2010 war ich ein­ge­laden, auf der Jahres­tagung der Fach­journa­listen in Deutsch­land an einem Podium zum Thema „Ist die Bericht­erstattung über die Homöo­pathie fair?“ teil­zu­nehmen. Jeder durfte ein Eröffnungs­wort sprechen. Ich hatte kurze Zeit vorher einen Artikel in die Hände bekommen, der von „Gesund­heits­wisse­nschaft­lichen Kon­tro­ver­sen als Heraus­forder­ung“ handelt (1).

Die Quintessenz gab ich wieder: Auf kontroversen Gebieten ist es die Aufgabe von gutem Journalismus, die Komplexität der Debatte abzubilden und nicht Stellung zu beziehen. Letzteres schon deswegen nicht, weil es weder die Aufgabe noch die Kompetenz von Journalisten ist, Entscheidungen über Kontroversen zu treffen, sondern zu informieren. Wenn es schon Fachleuten, die sich ein professionelles Leben lang, tagaus, tagein, nach Lektüre von tausenden von Seiten, nach mehr oder weniger gründlicher Sichtung der Arbeit anderer, nach mehr oder weniger eigenen Arbeiten nicht gelingt, klare Antworten zu finden, so ist das ein klarer Hinweis darauf, dass eine Sache noch nicht gut genug erforscht oder verstanden ist. Dann ist es nicht nur schlechter journalistischer Stil, sondern dann ist es schlicht journalistische Inkompetenz, wenn man in einer solchen Situation als Journalist meint, man  hätte nun die Aufgabe, den inkompetenten Wissenschaftlern und der verwirrten Öffentlichkeit weiterzuhelfen, indem man den gordischen Knoten des Zanks durchschlägt und ex cathedra der öffentlichen Meinung erklärt, wie sich die Sache nun wahrlich verhalte.

Dies ist genau das, was in der Berichterstattung über die Komplementärmedizin tagaus, tagein passiert. Auf jener Fachtagung erklärte eine bekannte Medizinjournalistin eines bekannten Wochenblatts: „Die Homöopathie ist wissenschaftlich widerlegt und gehört in die Medizingeschichte. Und dorthin will ich sie befördern.“ Ungefähr das waren ihre Worte. Sie habe alle (!) relevante Literatur zur Kenntnis genommen und dieses Ergebnis sei nun absolut und sonnenklar.

Als ich 1983/1984 begonnen habe, mich intensiv mit Homöopathie zu beschäftigen und die empirische Literatur zu sichten – experimentelle Tier-, Pflanzen und in-vitro-Studien, klinische Experimente am Menschen – , damals, als die moderne Forschung grad begonnen hatte, war ich einen vollen Monat lang in der Bibliothek der Faculty of Homeopathy in London beschäftigt, 8 Stunden am Tag, um die dort verfügbare Literatur zu lesen und zu kopieren, und noch einige Monate länger zuhause.

Ob die Dame, die sich so sicher war, die Homöopathie sei zu begraben, soviel Zeit hat für gründliche Recherche?

Ich habe dann über mehr als eine Dekade die Diskussion intensiv verfolgt, jeden Aufsatz von Bedeutung zur Kenntnis genommen. Einige eigene Studien konzipiert und durchgeführt und mir viele Gedanken gemacht.

Ob eine Journalistin, je soviel Zeit für eine solche Fragestellung aufbringt?

Schon in den 90er Jahren erschienen Meta-Analysen, also zusammenfassende Arbeiten aller Studien, die die Ergebnisse in einem Kennwert zusammenfassen, und schon damals waren annähernd 200 klinische Studien mit homöopathischen Interventionen gegen Placebo bekannt. 2005 erschien eine neue Meta-Analyse, die mehr als 200 solcher Studien nennt (2). (Zum Vergleich: Zur Frage, ob Operation besser ist als Warten bei der Behandlung des Prostata-Karzinoms gibt es genau zwei (zwei!) randomisierte Studien in der Literatur.) Das Ergebnis dieser Analyse war aus verschiedenen Gründen höchst umstritten (3).  Aber sie war im Lancet publiziert, einer renommierten Fachzeitschrift. Sie erbrachte, dass es unwahrscheinlich ist, dass homöopathische Arzneimittel anders als Placebo wirken. Sie erbrachte gleichzeitig, dass die guten Studien der Homöopathieforschung im Normalfall methodisch besser sind, als vergleichbare konventionelle Studien.

Kollegen rechneten die Daten nach, nachdem die Autoren der Originalpublikation durch öffentlichen Druck gezwungen wurden die Information herauszugeben, die ursprünglich nicht in der Arbeit enthalten war, nämlich welche Studien nun ihren Schlussfolgerungen zu Grunde lagen. Die neue Analyse zeigte: wenn man nicht, wie die Autoren der originalen Analyse, beschliesst, nur acht von allen Studien aufzunehmen, sondern, was man genauso gut tun kann, 9, 10, 11, 12 oder mehr –  dann sieht man erstaunlicher Weise: bei 9, bei 10, bei 11 und mehr Studien zeigt sich Homöopathie Placebo überlegen (4).

Interessant, oder?

Diese Arbeit wurde im Journal of Clinical Epidemiology publiziert, einer sehr guten Fachzeitschrift, aber eben nicht so weit gelesen wie Lancet. Man kann davon ausgehen, dass die Methodik und das Ergebnis dieser Nach-Analyse auf Herz und Nieren geprüft wurden, und dass es an dieser Aussage der Re-Analyse nichts zu rütteln gibt. Aber: sie wird geflissentlich von Journalisten, die „alle relevante Information gelesen haben“ nicht zur Kenntnis genommen.

Warum eigentlich?

Das ist also die Natur der Kontroverse: aus einem Blickwinkel zeigt sich, Homöopathie ist von Placebo nicht zu unterscheiden. Aus einem anderen zeigt sich, Homöopathie ist doch davon zu unterscheiden. Es ist nicht leicht, diese scheinbar widersprüchliche Information im Blick zu behalten. Die Versuchung ist sehr gross, einen Teil der Information zu ignorieren und es sich und anderen leicht zu machen. Aber Fortschritt ist noch nie dadurch entstanden, dass man Informationen, die einem nicht in den Kram gepasst haben, ignoriert hat.

Ich habe in jüngster Zeit zwei sogenannte homöopathische Arzneimittelprüfungen organisiert. Das sind homöopathische Studien, bei denen Freiwillige hochverdünnte Substanzen oder Placebo zu sich nehmen und die Symptome registrieren, die sie erleben. Keiner weiss dabei, welche Arzneimittel genommen wurden und wer was zu sich genommen hatte. Diese Studien zeigten, sehr zu meiner eigenen Überraschung, dass die Symptome unter homöopathischen Arzneien andere waren als die, die unter Placebo berichtet wurden (5).

Das war nun wieder ein klarer Hinweis auf die Unterscheidbarkeit von homöopathischen Arzneien und Placebo.

Besagte Journalistin schrieb mich ca. 3 Wochen nach der Tagung mit ein paar Fragen an – am Donnerstag Mittag mit einer Deadline von 3 Stunden für die Antwort. Ich war etwas sauer, weil ich auch noch andere Dinge zu tun habe als alles liegen und stehen zu lassen um eine Journalistenanfrage zu beantworten. Ich habe es dennoch getan, und sicherheitshalber die beiden Studien mitgeschickt mit dem Hinweis, bei einer Berichterstattung doch bitteschön diese neueren Ergebnisse zu berücksichtigen. Was geschah? Meine Antwort war einigermassen sinnvoll verwendet worden, wenn auch in einem schauerlich verzerrenden Kontext. Aber die Daten, und damit wichtige Informationen, waren komplett ignoriert worden. Im Text stand zu lesen: die Wissenschaft sei sich einig, Homöopathie ist widerlegt. Es gäbe keinerlei positiven Hinweise darauf, dass Placebo und Homöopathie zu unterscheiden wäre. Aus fachlich-sachlicher Sicht ist dies kompletter und barer Unsinn. Man kann, wenn man die Literatur ausschliesslich aus einer ganz bestimmten Richtung sieht, durchaus diese Meinung vertreten. Aber sie nicht als Meinung, sondern als Konsens zu berichten, ist journalistische Piraterie.

Allzuoft beobachte ich in letzter Zeit solch journalistisches Freibeutertum. Da wollen sich Leute, die sich unzureichend informieren oder mit vorgefassten Meinungen an die Sachen herangehen, in der publizistischen Landschaft mit Knalleffekten präsentieren. Das kann man ja verstehen. Wer will nicht gerne zur Kenntnis genommen werden. Aber was aus meiner Sicht jedem professionellen Ehrenkodex widerspricht ist die Nonchalance mit der auch Autoren der besten deutschen Medien es sich erlauben, Komplexitäten mit ein paar Hohlbegriffen wie „Placeboeffekte“, „Täuschungen“, „Paramedizin“ zu begraben. Man hängt sich dann an die Meinung einiger Wissenschaftler, die man, wiederum etwas kurzsichtig, weil zu wenig gut informiert, als Meinungsführer des Feldes ansieht und gibt deren Meinung einigermassen unkritisch als „Übereinstimmung der Wissenschaft“ wieder.

Die Komplementärmedizin ist ein kontroverses Feld. Warum? Weil sie nicht nur ungewöhnliche, schlecht verstandene, neue Verfahren anbietet, sondern weil sie eine wirtschaftliche Bedrohung für den Mainstreamkonsens darstellt. Wenn Menschen, die laut offizieller Diagnostik chronisch krank und nicht heilbar sind und darauf eingestellt, ihr Leben lang Präparat xyz von Firma ABC einzunehmen, plötzlich merken, mit ein bisschen Homöopathie, einer soliden Umstellung ihrer Ernährung, einem regelmässigen Programm zur Stressverarbeitung und Entspannung, mit Gewichtsreduktion und meinethalben einer beeindruckenden Placebotherapie sind sie frei von Symptomen und können ihre Medikamente absetzen – wenn das geschieht, dann wird eine fundamentale Wirklichkeit in Frage gestellt.

Einer der grössten Wirtschaftzweige wird in seinem Kern neu verhandelt. Und genau das ist es, was geschieht. Und aus genau dem Grund gibt es ein dezidiertes Interesse, Komplementärmedizin zu diskreditieren und Nebelraketen zu verschiessen um abzulenken. Was mich so erstaunt ist, dass offenbar die meisten und besten Medizinjournalisten auf diesem Auge völlig blind sind und den Katechismus des Konventionellen nachbeten, als ginge es um ihr professionelles Seelenheil. Das lässt mich nichts Gutes ahnen. Aus dem Grund habe ich es mir zur Angewohnheit gemacht, bei der Lektüre bestimmter Zeitungen davon auszugehen, dass ich richtiger liege, wenn ich das Gegenteil dessen annehme, was geschrieben steht. So sind zu Metternichs Zeiten die Leute auch ganz gut durch die Zensur gekommen. Aber es ist nicht das, was man von gutem Journalismus erwarten sollte.

(1) Riedl, S. (2010). Gesundheitswissenschaftliche Kontroversen als journalistische Herausforderung. Fachjournalist(4), 11-16.

(2) Shang, A., Huwiler-Münteler, K., Nartey, L., Jüni, P., Dörig, S., Sterne, J. A. C., et al. (2005). Are the clinical effects of homeopathy placebo effects? Comparative study of placebo-controlled trials of homoeopathy and allopathy. Lancet, 366, 726-732.

(3) Walach, H., Jonas, W., & Lewith, G. (2005). Letter to the Editor: Are the clinical effects of homoeopathy placebo effects? Comparative study of placebo-controlled trials of homoeopathy and allopathy. Lancet, 366, 2081.

(4) Lüdtke, R., & Rutten, A. L. B. (2008). The conclusions on the effectiveness of homeopathy highly depend on the set of analyzed trials. Journal of Clinical Epidemiology, 61, 1197-1204.

(5) Möllinger, H., Schneider, R., & Walach, H. (2009). Homeopathic pathogenetic trials produce symptoms different from placebo. Forschende Komplementärmedizin, 16, 105-110.

Walach, H., Möllinger, H., Sherr, J., & Schneider, R. (2008). Homeopathic pathogenetic trials produce more specific than non-specific symptoms: Results from two double-blind placebo controlled trials. Journal of Psychopharmacology, 22, 543-552.